Obing – Alle Jahre im Spätsommer treffen sich Menschen aus ganz Deutschland in der Wallfahrtskirche Maria Gojau, die eine der bedeutendsten und berühmtesten Kirchen des südlichen Böhmerwalds war und von Tausenden Pilgern und Hilfesuchenden besucht wurde.
Seit der Wende 1990 kehren die Heimatvertriebenen aus dieser Pfarrgemeinde an dem ehemals höchsten Feiertag Südböhmens in die vertraute Umgebung zurück, um bei einem Gottesdienst ihrer verstorbenen Angehörigen und ihrer Vertreibung aus der Heimat zu gedenken. Auch wenn ihre Zahl immer kleiner wird und der Feiertag im Kommunismus endgültig abgeschafft wurde, halten die Verbliebenen diese Tradition aufrecht. Dabei darf die Fahne, die im Jahr 1984 von den Heimatvertriebenen gestiftet wurde und mittlerweile im Fahnenschrank des TV Obing lagert, ebenso wenig fehlen, wie das gemeinsame Singen des Böhmerwaldliedes auf dem Friedhof nach dem Gottesdienst.
„Bei meinem Vater war das Thema unterschwellig immer präsent.“Ludwig Bürger
Organisiert wurden die Treffen von Ludwig Bürger senior aus Obing. Nach seinem Tod übernahm diese Aufgabe sein Sohn. Bis zur Wende hätten nur wenige Teilnehmer an den Gottesdiensten teilgenommen, vor allem fast keine Tschechen, da der Glaube im Kommunismus negiert worden sei. Nach der Wende seien vier Schwestern aus Adelholzen ins Kloster Maria Gojau gekommen und hätten das kirchliche Leben wiederbelebt. Zwischenzeitlich sei die Zahl der Teilnehmer, die teils mit Bussen angereist seien, um ein Vielfaches höher und das Gotteshaus gut gefüllt gewesen, erzählt Ludwig Bürger junior „Leider werden von Jahr zu Jahr die Teilnehmer aus den Ortsteilen der Pfarrei Maria Gojau altersbedingt immer weniger, sodass heuer an dem Treffen nur mehr etwa 30 Heimatvertriebene teilnahmen“. Nachdem es auch dort einen Priestermangel gebe, habe heuer Diakon Wolfgang Mösmang aus dem Pfarrverband Obing den Gottesdienst gehalten und in seiner einfühlsamen Predigt einen Bogen von den Leiden der Vertreibung in die heutige Zeit gespannt.
„Bei meinem Vater war das Thema unterschwellig immer präsent“, erzählt Ludwig Bürger. Er habe wie viele der damals Heimatvertriebenen den Verlust aller Habseligkeiten, die Trennung von Freunden und Angehörigen sowie die Herausforderungen und Schwierigkeiten in der neuen Umgebung gut gemeistert.
Im Gegensatz zu seinen Großeltern, die hier nie heimisch geworden seien. Die ewige Sehnsucht nach der Heimat sei dennoch unauslöschlicher Teil seines Lebens geblieben. Als Mitglied vieler Vereine sei er ein lebendiger Teil der Dorfgemeinschaft und ein angesehener Mitbürger gewesen. Dennoch habe er zeitlebens die Kontakte zu den Verwandten, die in ganz Deutschland verstreut gewesen seien, und zu Verwandten, Bekannten und Freunden in der alten Heimat gepflegt. Das seien nicht wenige, denn Deutsche, die mit einem Tschechen verheiratet gewesen seien, hätten in der Heimat bleiben dürfen.
1964 habe er als 13-Jähriger seinen Vater bei dessen erstem Besuch nach seiner Vertreibung begleitet. Das sei damals kompliziert gewesen, sagt Bürger. Man habe ein Visum gebraucht, die Grenzkontrollen seien sehr streng gewesen und es habe einen Zwangsumtausch gegeben. „Vor Ort wurden wir freundlich aufgenommen, denn mein Vater besorgte viele Medikamente, die es in der CSSR einfach nicht gab“. In der Folgezeit wiederholten Vater und Sohn ihre Besuche beinahe jährlich. „Nach dem Tod meiner Mutter habe ich bei einem der jährlichen Besuche in der alten Heimat aber das Gefühl gehabt, er wollte dort bleiben“, erinnert sich der Sohn des Böhmerwäldlers.
Auch nach dem Tod des Vaters 2015 werden Familientraditionen, wie beispielsweise das Kartenspielen (Böhmisch Wattn und Mariaschn) oder der Besuch der Gedenkmesse in Maria Gojau fortgeführt. Als Berichterstatter ehrt Bürger mit seinen Beiträgen über seine ehemalige Heimatgemeinde Maria Gojau, heute Kájov im Kreis Krumau (Tschechien) in den Zeitschriften „Glaube und Heimat“ und „Hoam“ das Andenken an die eigenen Wurzeln. Das sei auch dem Vater sehr wichtig gewesen. Deshalb habe der seine Lebenserfahrungen quasi als Vermächtnis für seine Kinder und Enkel festgehalten.
Ludwig Bürger ergänzte die Aufzeichnungen seines Vaters mit Bildern und daraus entstand das über 50-seitige, zu Herzen gehende Büchlein „Lebenserinnerungen eines Böhmerwäldlers“. Blättert man in der bewegten Familiengeschichte, wird das ewigwährende Heimweh des Heimatvertriebenen, aber auch der offene Umgang mit der Vergangenheit und das Arrangement mit dem Unabänderlichen deutlich.
Geboren wurde Ludwig Bürger senior als eines von sechs Kindern 1924 auf einem Bauernhof im südlichen Böhmerwald. In seinen reichen Lebenserinnerungen blickt er auf eine „zufriedene, anspruchslose und sorglose Jugendzeit, geprägt durch Respekt und Gehorsam gegenüber Älteren und einer recht resoluten Großmutter mütterlicherseits.“ Der Streifzug zeichnet aber auch ein detailliertes Bild der Lebensumstände der Deutschstämmigen in der neu gegründeten Tschechischen Republik vor und nach dem Zusammenbruch der kaiserlich-königlichen Monarchie, die Zeit, „als man uns 1946 wie Hunde aus der Heimat vertrieben hat“, bis zur Ankunft in Bayern.
Während die Eltern in ein Lager in Seeon und anschließend ins Armenhaus nach Obing kamen, fand der Sohn nach seiner Rückkehr aus der russischen Gefangenschaft Arbeit als Knecht auf dem Schusterhof in Großbergham. In der alten Heimat noch Exportkaufmann, landete der junge Mann nach weiteren beruflichen Stationen bei der Polizei und als Hilfsarbeiter im Baugewerbe. Später war er Mitbegründer des Betonwerks Unterholzner und bis zu seinem Ruhestand als Geschäftsführer und Prokurist dort tätig.
Die Aufzeichnungen bis 2009 gewähren auch tiefe Einblicke in die Gefühlswelt während des Kriegs, die Trauer um den Verlust des geliebten Elternhauses, „wo ich meine schönsten Jugendjahre verbracht habe“, die Freude über das Wiedersehen mit den Eltern nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft sowie den beruflichen und privaten Werdegang späterer Jahre.
Mit viel Fleiß und Arbeit habe sich die Familie in Obing ein Haus gebaut und auch beruflich und privat Fuß gefasst, berichtet Bürger in seinen Lebenserinnerungen nicht ohne Stolz. Es sei wichtig gewesen, Freunde zu finden und sich den Gegebenheiten anzupassen.
Er habe schnell begriffen, dass ein lustiger und froher Mensch stets gern gesehen sei und er sei froh, dass das Schicksal ihn nach Bayern geführt habe. Und er schreibt nieder: „Wir haben Gott sei Dank eine neue Heimat gefunden, aber das Heimweh nach unserem schönen Böhmerwald ist geblieben“.