Oberaudorf – „Wir sind eigentlich eine ganz normale Schule“ sagt Rita Mechtl. Eine Aussage, die im Grunde ein Widerspruch in sich ist. Denn wenn sie es für normal hält, dass an ihrer Schule nicht behinderte und behinderte Kinder, darunter sogar eines, das im Wachkoma liegt, miteinander leben und lernen, dann ist gerade das nicht normal, sondern außergewöhnlich. Auch heute noch.
Wobei Rita Mechtl mit dieser Feststellung wahrscheinlich nicht ganz einverstanden wäre. Erstens, weil ihr Reden von Normalität keine kokett gemeinte Untertreibung ist, sondern ihre ehrliche Selbsteinschätzung, vor allem aber weil ihr hier schon wieder viel zu viel Schubladendenken auftaucht.
Die Inklusive Schule in Oberaudorf, an der Rita Mechtl die pädagogische Leitung hat und die am heutigen Tag in einem kleinen Festakt ihr fünfjähriges Bestehen feiert, will ja gerade weg von den Etiketten, mit denen Menschen, mit denen Kinder in vorgefertigte Schubladen gesteckt werden. Zumal man dabei in der Regel von Defiziten ausgeht: Hat ein Downsyndrom, ist taub, ist verhaltensauffällig, sitzt im Rollstuhl.
An der Schule sieht man dagegen lieber die Chancen auf Besserung, die in jeder Behinderung stecken. Selbst bei Christoph, der im Wachkoma liegt. Was genau er mitbekommt, weiß niemand, aber kleine Anzeichen verraten durchaus, dass er überhaupt etwas mitbekommt und dass eine normale Umgebung, die vielfältige Reize bietet, in solchen Fällen besser ist, als eine abgeschottet und sterile.
Da ist Chiara, die nur mit einem Gehwagen gehen kann. Mühsam kämpft sie sich durch die Gänge, doch sie ist dabei unermüdlich und fröhlich, denn kleine Fortschritte sind sichtbar und die sind es, die sie unmittelbar von allen rückgemeldet bekommt, nicht ihr Defizit.
Für ihre Mitschüler ist Chiara übrigens keineswegs behindert, „sie kann halt nur noch nicht gescheit gehen“.
Kinder so sagt Bettina Brühl, die Geschäftsführerin des privaten Schulträgers, haben die Kategorien „behindert“, „nicht behindert“ noch nicht, diese Schubladen erlernen sie erst von uns Erwachsenen. Doch mancher dieser Erwachsenen mag sich jetzt fragen: Gehen diese Entwicklungsschritte, so toll sie auch sein mögen, nicht zulasten des Schulfortschritts der „normalen“ Kinder? Offenbar nicht, wie Johannes beweist, dessen Hochbegabung man in der Schule so förderte, dass er schon nach der dritten Klasse ins Gymnasium wechseln konnte. Für Rita Mechtl und Bettina Brühl ist auch dieser Fall nichts, worauf sie mit besonderem Stolz verweisen, für sie nur schlicht der Beweis, dass das Konzept, die Stärken der Kinder zu fördern und auf ihre Fähigkeiten anstatt auf ihre Defizite zu schauen, in jedem Fall aufgeht.
Ganz nebenbei ist es auch ein Beleg dafür, dass es an dieser Schule nicht um Kuschelpädagogik geht, in der Leistung keinen Stellenwert hat. „Leistung ist etwas Tolles“, sagt Rita Mechtl, „und alle Kinder wollen von sich aus Leistung bringen. Es geht nur darum, dass das nicht jede und jeder in jedem Fach und bei jeder Herausforderung in gleichem Maß kann und dass dadurch nicht gleich die ganze Persönlichkeit infrage gestellt werden darf“.
Wie sie sich das Gegenteil vorstellt? „Dass jemand zwar weiß, dass Chemie nichts das Seine ist und dass er es hier auch mit viel Lernen nicht zu Spitzenleistungen bringen wird. Der aber trotzdem aus den angebotenen Projekten auch mal eines aus dem Fach Chemie wählt, weil er das Thema interessant findet. Und sich das traut, weil er weiß, dass es hier kein wirkliches Scheitern geben wird: Sein Wert als Person bleibt schließlich davon völlig unberührt“.
Die Inklusive Schule Oberaudorf ist also nicht einfach eine Schule, in der eben auch behinderte Kinder unterrichtet werden, es ist vielmehr eine, die die Erkenntnisse, die man aus der Förderung behinderter Kinder gewonnen hat, auch für alle anderen nutzbar macht.
Das dahinterstehende Wissen ist übrigens nicht neu. Vorreiter war hier ein Ungar, Andras Petö, der nach dem Zweiten Weltkrieg ein alternatives Förderkonzept für Menschen mit einer Hirnschädigung entwickelte.
Als mit dem Aufbrechen des Ostblocks dieses Gedankengut langsam auch in den Westen kam, entstanden in Deutschland erste Kindergärten, die nach diesem Konzept arbeiteten, einer davon in Oberwöhr.
Das Projekt war schließlich so erfolgreich, dass 2010 die Idee erwuchs, eine eigene Schule aufzumachen und dabei das Projekt noch etwas voranzutreiben. Wirklich weg mit jedem Schubladendenken, es sollten nicht nur Kinder mit jeglicher Behinderung aufgenommen werden, sondern auch solche ohne.
Heute besteht die Schule in Oberaudorf nicht nur aus einer Grundschule, sondern auch aus einer noch im Aufbau befindlichen Mittelschule, die ältesten Kinder gehen derzeit in die achte Klasse. Der Zulauf ist mittlerweile so stark, dass man, wie Rita Merkl sagt, im Grunde problemlos sogar eine zweite Schule aufmachen könnte.