Verfolgt von der Staatssicherheit

von Redaktion

Was die Ramerbergerin Christine Wahl erlebte, als sie aus der DDR ausreisen wollte

Ramerberg – Was bedeutet es, eine unerwünschte Person in seinem Heimatland zu sein? Von der Stasi beobachtet und schikaniert zu werden? Menschen, die im Westen aufgewachsen sind, wissen es nicht, Christine Wahl aus Ramerberg sehr wohl. Denn sie verließ 1979 – zehn Jahre vor dem Mauerfall – die DDR. Was sie erlebte, nachdem sie einen Ausreiseantrag gestellt hatte, darüber berichtet sie im Gespräch mit der Wasserburger Zeitung.

„Ich war nicht die, die nach dem Westen wollte.“ Das sagt Christine Wahl aus Ramerberg noch heute, zwischenzeitlich 74 Jahre alt. Trotzdem hat sie 1979 die DDR und ihren kleinen sächsischen Heimatort Wechselburg mit seinen damals 1300 Einwohnern verlassen, um die Familie im Westen wieder zu vereinen. Gut zehn Jahre vor der Grenzöffnung schaffte sie es mit viel Hartnäckigkeit, Geduld, Mut und auch Glück die scheinbar unbezwingbare Grenze zum Westen zu überwinden und mit ihren Kindern in die Bundesrepublik auszureisen?

Scheinbar alles passte in den 60er- und 70er-Jahren in der Familie Wahl zusammen. Zum bescheidenen sozialistischen Wohlstand, den man sich erarbeitet hatte, gehörten nach der Hochzeit 1965 vor allem sichere Arbeitsplätze und eine Wohnung. In die Ortsgemeinschaft war die Familie bestens eingebunden. So ist Christine Wahl damals nicht nur von ihrem Fachkrankenhaus, sie arbeitet hier als gelernte Krankenschwester im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie, als Gemeinderätin abgeordnet. Sie ist auch Gründungsmitglied der örtlichen Frauenfeuerwehr und als Vorsitzende des Roten Kreuzes sozial engagiert. Ihr Mann ist Pfleger. Zudem sind da noch die beiden Kinder. Die sichere Existenz aufgeben? Kaum vorstellbar für sie. Es sollte aber anders kommen.

In der Folge der KSZE-Verhandlungen ab 1973 sprach sich in der DDR und damit auch in ihrer Verwandtschaft langsam herum, dass es Erleichterungen im Reiseverkehr geben sollte, Umsiedlungen in den Westen in Einzelfällen möglich seien. Christine Wahl kümmert sich zunächst nicht um solche Geschichten, sie ist mit Kindern und Beruf voll ausgelastet.

Auch als 1975 und 1976 Verwandte in den Westen übersiedeln, ist Ausreise für sie kein Thema. „Allerdings dachte mein Mann wohl darüber anders“, erinnert sie sich heute. Dieser nutzte die Gelegenheit, zur Silberhochzeit seines Bruders an Ostern 1977 gemäß den Bestimmungen ohne seine Familie in den Westen zu reisen. Was Ehefrau und Kinder bei seiner Abreise noch nicht wussten: Er würde nicht mehr in die DDR zurückkommen.

Er sei wohl damals etwas neidisch geworden, was seine Verwandten im Westen alles erreicht hätten, so Christine Wahl. Bei einem Anruf kurz vor Verstreichen der genehmigten Besuchszeit sei sie jedenfalls misstrauisch geworden – vor allem als er sie bat, ihm seine Papiere und das Arbeitsbuch nachzuschicken. Das würde doch wegen der Feiertage viel zu lange dauern, wandte sie bei diesem Gespräch ein, da müsste er doch schon längst zurück sein. Es folgten eine schlaflose Nacht, ein weiteres Telefongespräch. Letztlich die entscheidende Frage: „Kommst du?“ Darauf die klare Antwort: „Nein!“

Was dann folgte, wühlt Christine Wahl heute noch emotional auf. Auch der Gedanke an Scheidung gehört in der Folge der plötzlichen radikalen Änderung ihrer Lebensumstände zu den Optionen, die die damals 32-Jährige erwägt. Schließlich meldet sie der Polizei, dass ihr Mann nicht aus dem Westen zurückkommen werde und löst damit eine Lawine von staatlichen Aktionen aus.

Wohnung durchsucht
und ausspioniert

Ihre Wohnung wird von der Staatssicherheit durchsucht, persönliche Papiere hat sie allerdings vorher schon versteckt. Man glaubt ihr letztlich nicht, dass sie von den Plänen ihres Mannes nichts gewusst habe. Ihr wird klargemacht, dass sie jetzt ganz bestimmt keine Ausreisegenehmigung erhalten werde. „An Ihnen werden wir der Bevölkerung zeigen, wie man seinen Staat nicht verrät!“, wird ihr gesagt. Egal was sie einwendet, die Leute von der Stasi glauben ihr nicht.

In der Folge überlegt sie sechs Wochen, was zu tun sei. Schließlich kommt sie zu dem Schluss, dass sie ihren Kindern den Vater auf Dauer nicht vorenthalten könne. Der erste von insgesamt elf Ausreiseantragen wird gestellt, schon die Benutzung einer volkseigenen Schreibmaschine wird dabei zum Risiko für jeden Mitwisser. Was sie damals noch nicht weiß, in der Folge wird sie aus dem Bereich der nächsten Nachbarschaft heraus beobachtet und ausspioniert. Die Staatssicherheit ist nahezu über jeden ihrer Schritte informiert.

In der Folge gibt sie ihren Sitz im Gemeinderat auf, auch den Vorsitz im Roten Kreuz der Gemeinde. Positiv, ihr Arbeitgeber hält schützend seine Hand über sie. Der schätzt seine kritische Mitarbeiterin, die schnell lernt, ihre eigene Strategie im Umgang mit der Staatssicherheit zu entwickeln. Dazu gehört auch, dass ihre Arbeitsleistung nicht nachlässt. Sie schimpft nicht öffentlich über die Republik, lässt sich über ihre wahren Absichten nicht in die Karten schauen. Im Umgang mit der Stasi lernt sie, ihre Gegenüber, die sie alle 14 Tage in der Kreisstadt Rochlitz aufsucht, genau zu studieren.

Ob sie eine bestimmte Rede von Willi Brandt gehört habe, wird sie bei diesen Treffen befragt. Sie antwortet mit dem Hinweis, ihr Fernseher sei kaputt, zum Radiohören habe sie wegen Arbeit und Kindern keine Zeit.

Ein Gespräch zieht sie einmal selbst in die Länge, da es draußen regnet und sie nicht nass werden will. Das Gefühl, zunehmend die Gesprächsregeln mitbestimmen zu können, gefällt ihr, gibt ihr auch die Kraft, in ihrer Rolle als „lästige“ Antragstellerin immer weiterzumachen. Dabei scheut sie sich nicht, auch Ungerechtigkeiten wie versagte Lohnerhöhungen bei den Behörden anzusprechen.

Immer ist sie sich dessen bewusst, dass sie sich damit auf Messers Schneide bewegt. Was sie besonders ärgert, ist, dass es in der Schule nicht rund läuft. Lehrer und Schulleiter lassen die Kinder für den vermeintlichen Verrat des Vaters offensichtlich büßen. Die Situation eskaliert, als der zehnjährige Sohn einen Bauwagen beschmiert. Für die örtliche Polizei wäre es zwar mit Abwaschen getan gewesen, die Schule petzt aber und so landet Christine Wahl einen Tag vor Weihnachten 1977 schließlich vor dem Staatsanwalt, sogar der Bezirksstaatsanwalt hört mit.

Ersterer droht mit Wegnahme der Kinder, da sie als Mutter wohl nicht in der Lage sei, ihre Kinder im Sinne des Sozialismus zu erziehen. Wahl lässt sich aber nicht erpressen. Sie prangert fehlende staatliche Hilfen an und fordert aufgebracht: „Ihr wollt uns behalten. Dann macht was dafür!“ Nichts geschieht. Die Spirale der Anträge geht weiter, der zehnte landet schließlich sogar im Büro des Staatsratsvorsitzenden. Immer die gleichen Absagen und weitere Schikanen.

Hilfe wird ihr schließlich im Bereich der katholischen Kirche zuteil. Prälat Herrmann Joseph Weissbender nimmt sich ihrer an und berät sie auch beim letzten Antrag auf Ausreise. Um die Weihnachtszeit 1978 schafft es Christine Wahl mit ihren Kindern schließlich auf eine Ausreiseliste. Sie wird für 40000 Mark von der Caritas freigekauft. Drei Kisten persönliche Dinge darf sie, begleitet von weiteren Schikanen der Behörden, mitnehmen.

Für 40000 Mark von
der Caritas freigekauft

Am 26. Januar 1979 muss sie mit ihrer Habe in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) zum Zoll und reist über Gießen nach Oberbayern, um in Attel endlich wieder ihren Mann in die Arme zu schließen. Mit im Gepäck: eine Ausbürgerungsurkunde, das Bewusstsein eine unerwünschte Person in der alten Heimat zu sein und ein Einreiseverbot für acht Jahre in die DDR.

In Attel fängt sie bereits am 1. April 1979 wieder in ihrem alten Fachbereich an zu arbeiten. Am Förderzentrum der Stiftung Attl wirkt sie bis 2010 25 Jahre lang und ist danach noch viereinhalb Jahre im Hort in Wasserburg tätig. In Zellerreit genießt Christine Wahl derzeit ihren Ruhestand. Ihre Tochter, die 1981 die Familie vervollständigt, trifft sie regelmäßig, auch zu ihren Söhnen pflegt sie engen Kontakt. Erst im August hat sie ihre alte Heimat wieder besucht. Man kennt sich da immer noch, aber der alte Zusammenhalt sei nicht mehr da. Schade, findet sie.

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