Wasserburg – „Frauen trinken anders als Männer – heimlich, versteckt, voller Scham“, sagt Regina. Sie weiß, wovon sie spricht: Die Mittvierzigerin ist trockene Alkoholikerin. Gemeinsam mit Maria, Anfang 70, leitet Regina die Frauengruppe des Kreuzbundes in Wasserburg. Hier gibt es Hilfe zur Selbsthilfe, speziell für Frauen. Die Leiterinnen der Gruppe verkörpern beide Parteien, die beim Kreuzbund willkommen sind: Suchtkranke und Angehörige.
Regina hat während des Studiums angefangen, zu trinken. Nach anstrengenden Lern- und Klausurwochen gönnte sie sich regelmäßig zur Entspannung ein Fläschchen. Das trank sie aus und entsorgte es, damit ihr Freund und späterer Ehemann keine Reste vorfand.
Abends konnte die junge Frau bald nicht mehr ohne Alkohol abschalten vom stressigen Berufsalltag als Pendlerin. 2007 dann der Zusammenbruch – auf der Fahrt in den Urlaub am Brenner. Ein Bluttest im Krankenhaus zeigte fast drei Promille. Erst jetzt war der Familie klar, dass sie trank. Regina startete eine ambulante Therapie bei der Diakonie, acht Jahre lang war sie trocken. 2016 und 2017 folgten Rückfälle. Regina entschied sich erneut zur Therapie.
Dem Rat, eine Selbsthilfegruppe zu besuchen, folgte sie anfangs nur zögerlich. Doch sie hat es nicht bereut: Die Frauengruppe des Kreuzbundes in Wasserburg gab und gibt ihr bis heute Stabilität.
Vor allem eins hat Regina dort gelernt: „Es gibt keine Heilung. Ich bin krank und diese Krankheit ist nicht vorbei, auch wenn ich nicht mehr trinke.“ Trocken sein und bleiben ist ein lebenslanger Prozess, sagt sie ohne Zorn in der Stimme.
Seit 30 Jahren geht der Ehemann von Gruppenleiterin Maria bereits erfolgreich diesen Weg. Das Feierabendbier gibt es für ihn nicht, das Glas Sekt zum Anstoßen bei Familienfeiern lehnt er ab, einen Schnaps nach dem Essen ebenso. „Ich darf nicht“, sagt er schon längst nicht mehr. Stattdessen: „Ich mag nicht.“
Zwölf bis 15 Halbe Bier hat er bis Mitte 40 pro Tag getrunken. Ehefrau Maria hat ihn zwar nie im schweren Rausch, aber jahrzehntelang nur angetrunken erlebt. Als Jungverheiratete hatte sie sich anfangs eingeredet, der Ehemann brauche sein Bier, weil er halt so gestresst sei. Nach außen hielt sie die Fassade aufrecht, vertuschte und verheimlichte die Sucht.
Es war der Chef, der schließlich das Unaussprechliche aussprach: Ob er trinke, fragte er Marias Mann. Dieser gab es sofort zu – es war fast eine Erleichterung, erinnert er sich. Bei der Caritas fand er einen Therapieplatz.
Maria bekam den Rat, sich ebenfalls Hilfe zu holen. „Er trinkt und ich soll in eine Gruppe gehen? Das habe ich damals überhaupt nicht eingesehen“, sagt sie. Doch auch Angehörige benötigen Hilfe, weiß sie heute. Denn selbst wenn der Ehemann aufhört, zur Flasche zu greifen, ist noch lange nicht alles wieder gut, so ihre Erfahrung. Im Gegenteil: Der trockene Alkoholiker ist ein anderer Mensch als der trinkende.
Schwere
Depressionen
Maria, die jahrelang in der Familie für alles zuständig war, sich immer gekümmert und alle Entscheidungen getroffen hatte, musste akzeptieren, dass ihr Mann nach der erfolgreichen Therapie plötzlich Präsenz zeigte: sich einbrachte, Informationen einforderte, Entscheidungen infrage stellte, „plötzlich alles wissen wollte“.
Maria hatte sich außerdem im Bemühen, ihrem Mann alles recht zu machen, damit er nicht trinkt, selbst verloren. „Ich hab immer nur auf ihn geschaut, ich wusste gar nicht mehr, was mir guttut.“ Sie bekam eine schwere Depression, eine achtwöchige Therapie rettete sie. Auch ihr brachte danach die Kreuzbund-Gruppe Stabilität. Hier konnte sie offen über ihre Probleme reden, hier findet sie Menschen, denen es ebenso erging wie ihr. Ohne die Gemeinschaft der Frauen – Angehörige und Suchtkranke gleichermaßen – wäre sie nicht die Person, die sie heute ist: selbstbewusst, offen, angstfrei – und voller Lebenslust und Energie.
Wichtigster Vorteil der Gruppe: das Reden. „Dadurch ordnet sich viel“, sagt Regina. Die Gedanken würden in der Gruppenstunde sortiert, die Rückmeldungen der Frauen würden helfen, klarer zu sehen.
Regina hat in der Therapie und in der Gruppe außerdem aufgearbeitet, warum sie getrunken hat. Sie ist ein Adoptionskind, wuchs lange Zeit ohne Geborgenheit auf, wollte stets anderen gefallen oder versuchte, mit guten Noten in der Schule, tollen Leistungen im Studium oder Beruf Anerkennung und Geborgenheit zu erlangen. Sie neigt, so gibt sie offen zu, bis heute dazu, in die alten Denkmuster zurückzufallen. In der Gruppe fällt es auf, wenn sie überarbeitet wirkt. „Übernimm dich nicht“, heißt es dann. Das tut ihr gut, bringt sie stets wieder auf den richtigen Weg zurück.
Mittlerweile hat Regina die Krankheit als Teil ihres Lebens anerkannt. „Ich wäre nicht die, die ich heute bin, hätte es den Alkoholismus nicht gegeben“, sagt sie. „Ich wäre nach wie vor ein schüchternes Mauerblümchen“, ergänzt Maria, die die Gruppe ebenfalls stark gemacht hat. So stark, dass sie sie lange geleitet hat und nach einer Pause nun wieder führt. Sie hat an vielen Fort- und Weiterbildungen teilgenommen, eine Besonderheit der Kreuzbundgruppen, die intensiv auf Aufklärung und Information setzen und ein großes Seminarangebot vorhalten. Maria ist eine Expertin geworden – auch in der Gesprächsführung.
Familiäre
Atmosphäre
Bei den Gruppenstunden im Caritashaus am Heisererplatz sorgt sie für eine familiäre Atmosphäre. „Alles, was wir besprechen, bleibt im Raum, nichts dringt nach außen“, sagt sie. „Wir sind ehrlich miteinander.“ Erstaunlich, aber wahr: „Wir reden wenig über Alkohol, viel über unsere Probleme im Alltag und darüber, wie wir sie lösen können. Doch wir lachen auch viel.“ Ratschläge können auch Schläge sein, weiß Maria, deshalb müsse niemand fürchten, belehrt zu werden.
Vielmehr gehe es darum, sich gegenseitig zu stärken. Das hat die Gruppe bei Maria erfolgreich geschafft. Deshalb möchte sie ihre Erfahrungen gerne an andere weitergeben. Weibliche Suchtkranke und Angehörige sind in der Frauengruppe herzlich willkommen. Damit auch sie irgendwann so wie Regina sagen können: „Ich muss nicht abstinent leben, ich will abstinent leben.“