Flintsbach/Raubling/Rosenheim – Ängste, Druck, schlechtes Gewissen – die Verantwortung für die Angehörigen während der Corona-Krise sei „riesig“ gewesen, sagt Evi Faltner, stellvertretende Geschäftsführerin des Mehrgenerationenhauses in Flintsbach. Seit Mitte März hatten die Tagespflegen für Senioren in Flintsbach, Raubling und Rosenheim geschlossen, die Demenzkranken mussten bei ihren Familien bleiben. Eine belastende Phase für die Angehörigen. Langsam nehmen die Einrichtungen aber wieder Betrieb auf.
Stück für Stück mehr
Normalität im Alltag
Ein geregelter Tagesablauf sei wichtig für Demenzkranke oder altersverwirrte Menschen. Sie wollen gebraucht werden, eine Aufgabe haben. All das fiel während der Krise weg. Evi Faltner und ihre Kollegen Elke Klein, Leiterin der Tagespflege des Christlichen Sozialwerks Raubling und Gabi Mayerhofer, Leiterin der Tagespflege der Nachbarschaftshilfe Rosenheim, haben während der Krise an einem Strang gezogen. Bei einem Treffen im Mehrgenerationenhaus in Flintsbach berichten sie, wie wichtig, die Wiedereröffnung der Tagespflegen ist: Die Angehörigen müssen entlastet werden und die Senioren brauchen wieder ein Stückchen Normalität in ihrem Alltag.
In Flintsbach hat die Tagespflege seit dem 18. Mai wieder geöffnet, in Raubling seit 15. Juni und in Rosenheim ist die Tagespflege seit 25. Mai wieder in Gange. Jede Einrichtung habe ein eigenes Hygienekonzept. Trotzdem habe man sich untereinander Tipps gegeben, sich Rat geholt und Erfahrungen ausgetauscht.
Die Wiedereröffnung der Tagespflegen geht derzeit nur unter Einschränkungen: Anstatt den etwa 20 Betreuten seien in Flintsbach, Raubling und Rosenheim neun Senioren zugelassen. Im Mehrgenerationenhaus in Flintsbach gibt es an einzelnen Tagen noch eine zusätzliche Nachmittagsgruppe mit acht Personen. Mehr Senioren könne man aufgrund der Abstandsregelungen aber nicht aufnehmen, bedauern die Leiterinnen.
Elke Klein berichtet, dass sie ein paar Senioren während der Corona-Krise bereits an das Heim „verloren“ hätte. Traurig finde sie das. Aber sie versteht es. Der Leidensdruck der Angehörigen war offenbar so groß, dass es keinen anderen Ausweg mehr gab.
Stefan Lederwascher, Bürgermeister von Flintsbach und Vorstand des Vereins Mehrgenerationenhaus, sagt, dass man sich während der Krise in einem ständigen Zwiespalt befand. Hätte man die Tagespflege nicht geschlossen, wären die Senioren der Gefahr ausgesetzt gewesen, an Corona zu erkranken. Zu Hause allerdings sterben sie an Einsamkeit. Die Angehörigen haben nicht die Zeit, sich rund um die Uhr in dem Maße auf die Demenzkranken einzustellen.
Senioren
mental fördern
„Wir arbeiten momentan mit Hoffnung“, erklärt Elke Klein. Der Stand der Dinge könne sich jederzeit wieder ändern. Und dass die Tagespflegen wieder geöffnet sind, sei wichtig für die Senioren: Demenzkranke brauchen das Gefühl, mit ihrer Krankheit nicht allein zu sein. Die Aufgabe der Mitarbeiter in Tagespflegen sei es, die Senioren mental wieder mehr zu fördern. Unter Gleichgesinnten kommen oftmals auch wieder Gespräche aus früheren Zeiten auf. Gerade in einem Dorf wie in Flintsbach oder Raubling kennen sich die Menschen noch von früher. Und das gibt den Senioren wieder Selbstbewusstsein. „Sie schauen wieder auf sich, sie merken, was sie können.“
Allmählich würden die Senioren wieder Routine finden. In Flintsbach beispielsweise kommen die zu Betreuenden gegen neun Uhr und werden am Nachmittag wieder abgeholt. Dass die Mitarbeiter Masken aufhaben, akzeptieren die Senioren, das würde ihnen keine Angst machen. Schade findet Evi Faltner nur, dass im Moment keine gemeinsamen Projekte mit Kindern stattfinden können, was dem eigentlichen Konzept eines Mehrgenerationenhauses entspreche.
Verzichten würde man im Moment auch aufs Singen. Viele der Senioren könnten gesundheitsbedingt keine Masken aufsetzen. Nur bei Toilettengängen und bei nahem Kontakt mit Mitarbeitern sei eine Mund-Nasen-Bedeckung Pflicht. Vorwiegend versuchen die Leiterinnen Programmpunkte nach draußen zu verlagern. Zum Beispiel Gymnastikübungen oder Zeitunglesen.
Auch geputzt und gelüftet werden müsse mehr als früher. Jeder Stuhl, jeder Stift, den die Senioren anfassen, müsste im Anschluss direkt desinfiziert werden. In den Ruheräumen, wo sonst immer drei Personen schlafen, kann derzeit nur eine Person ruhen. Eine Besonderheit ergibt sich auch beim Fahrdienst: Auch da müssen die Senioren einzeln abgeholt und nach Hause gefahren werden. Die Leiterinnen sind besonders dankbar, dass die Angehörigen sich engagiert zeigen und die Senioren größtenteils selbst bringen und abholen. Generell möchte Evi Faltner anmerken: „Das Verständnis unter den Angehörigen war groß.“
Durch die Krise enger
zusammengerückt
An den Tag der gemeinsamen Schließung erinnern sich Faltner, Klein und Mayerhofer noch gut: Es war am Freitag, den 13., im März. Rosenheim war bereits als Hotspot bekannt, weil viele Urlauber vom Skifahren aus Österreich zurückkehrten. Evi Faltner telefonierte während der Corona-Krise viel mit ihren Kolleginnen. Alle waren sich einig: Die Tagespflegen müssen vorerst schließen. Eine Entscheidung, die sie selbst gefällt haben und die, im Nachhinein betrachtet, auch richtig war. Unter den Senioren haben es keinen einzigen Corona-Fall gegeben.
Für Faltner war die Zusammenarbeit mit ihren Kolleginnen wichtig. Das habe ihr in dieser Zeit Sicherheit gegeben und dadurch sei man noch enger zusammengerückt. Das Konzept einer Tagespflege sei noch nicht in allen Gemeinden angekommen. Deshalb begreife sie sich als „Vorreiter“. „Die anderen sollten sich auch trauen“, macht Faltner Mut. „Eine Tagespflege sollte so selbstverständlich sein wie eine Kinderkrippe oder ein Kindergarten.“