„Ich vermisse nichts aus diesem System“

von Redaktion

Simone Lindner zog nach der Wiedervereinigung von Chemnitz in den Chiemgau

Aschau – Auch wenn ihre Eltern in Chemnitz, vormals Karl-Marx-Stadt, geblieben sind, sie wollte raus. Und bis heute ist Simone Lindner (47) über die Entscheidung glücklich, die sie nach ihrem ersten Lehrjahr als Friseurin kurz nach der Wende traf: „Raus, ich vermisse nichts aus diesem System.“ Gut ein Jahr nach dem Mauerfall zog sie von Sachsen nach Oberbayern – mit festem Lehrvertrag als Auszubildende im Friseurhandwerk im zweiten Lehrjahr.

Eines gehe ihr ab: Die guten Backwaren aus ihrer „alten“ Heimat, echten Blechkuchen, nicht diese industrialisierten. Aber auch dort schmecke der Blechkuchen inzwischen nicht mehr wie früher, gibt Simone Lindner zu. Sie sei dankbar, „immer zur richtigen Zeit die richtigen Leute getroffen zu haben“, betont sie mehrfach.

Von Reisefreiheit im Fernsehen erfahren

In der DDR konnte sie nur mit Bestnoten ihren Traumberuf der Friseurin erlernen. So begann sie ihre Ausbildung nach dem Schulabschluss mit der Traumnote 1,1 im Sommer 1989 im Salon „Charmant.“

Bei den Montagsdemonstrationen sei sie mitgelaufen. Als der Mauerfall tatsächlich passierte, habe sie es kaum glauben können. Mit ihrer ein Jahr älteren Schwester und Mutter habe sie aus dem Fernseher erfahren, dass nun die Reisemöglichkeit „ohne Vorliegen von Voraussetzungen wie Reiseanlässen und Verwandtschaftsverhältnissen“ aufgrund kurzfristig erteilter Genehmigungen über Grenzübergänge ins Bundesgebiet und nach West-Berlin „sofort, unverzüglich“ bestehe.

Sie selbst sei aber das erste Mal nach Oberfranken am 4. Dezember gereist, erinnert sie sich. In Kulmbach habe sie sich mit ihren 100 Mark Begrüßungsgeld nur ganz wenig gekauft, ein kleines Haarspray und eine Single, den Rest habe sie wieder mit nach Chemnitz genommen. Dass sie sich verändern wollte, „raus aus dem System“, das sei ihr schon damals klargewesen.

Der Salon „Charmant“ wurde von einer Düsseldorfer Friseurkette übernommen, überhaupt habe der Westen Einzug gehalten. Dass es sie nach Rimsting verschlug, war „purer Zufall“.

In einer Innungszeitschrift für Friseure aus dem Jahr 1988, sei ihr eine Anzeige ins Auge gefallen: Schwangerschaftsvertretung in Rimsting bei Salon Huber gesucht. „Ich habe mich dort als Auszubildende im zweiten Lehrjahr ab Herbst 1990 beworben“, erinnert sie sich. Nach einmaligem Briefwechsel und wenigen Telefonaten sei sie genommen worden.

Als Zweitbeste im Landkreis habe sie ihre Ausbildung abgeschlossen und im Salon Huber weitergearbeitet. Es folgten ein Umzug nach Bernau, später nach Sachrang, und vor 15 Jahren wechselte sie zum Salon Heike Brembs in Aschau. Heute ist Simone Lindner glücklich: Sie habe ihren Traumberuf ergriffen, gute Freunde gefunden, auf die sich immer verlassen könne. Und: „Ich wohne umgeben von Holz, Blumenkästen und Bergen, so wie ich es mir immer vorgestellt habe, in einer traumhaften Landschaft.“

In Bayern eine neue Heimat gefunden

Die 47-Jährige hat zwei inzwischen erwachsene Kinder und einen neuen Partner, der „seit sieben Jahren an meiner Seite“ ist. Der Chiemgau sei ihr Zuhause, betont sie. Zu diesen „neuen“ Heimatgefühlen tragen auch Aussagen früherer Klassenkameraden bei Klassentreffen bei, so Simone Lindner. Da herrschten noch immer Mentalitätsunterschiede zwischen Bayern und Sachsen. Ihr hafte noch heute das Label „abgehauen“ an.

Und doch komme ab und zu Nostalgie auf: Gerade eben sei im Fernsehen „Ballon“ von Bully Herwig gelaufen, die Geschichte von zwei DDR-Familien, die mit einem selbst genähten Heißluftballon nach Westdeutschland fliegen: „Das war bedrückend, aber auch sehr realistisch nachempfunden.“ Aus dem Westfernsehen, seien es Filme, Nachrichten oder Werbung, habe man sich zu DDR-Zeiten sein Bild von Westdeutschland zusammengesetzt, für sie Werbebilder, eine Außenwerbung, die in ihren Augen auch heute noch prägend dafür ist, dass viele nach Deutschland kommen wollen.

Aber, so Simone Lindner weiter: „Wir waren nicht naiv.“ Ihre Eltern hätten sie damals ziehen lassen, auch ihre Geschwister seien später aus Chemnitz weggegangen, die Schwester an den Samerberg und der jüngere Bruder über Berlin nach Rheinland-Pfalz, aber zu Familienfeiern treffen sie sich immer in Karl-Marx-Stadt, jetzt Chemnitz.

Dort ist Simone Lindner dann auf Besuch, ihr Zuhause liegt seit knapp drei Jahrzehnten im Chiemgau.

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