Samerberg – Marcus Burghardt ist dageblieben. Ein bisschen zumindest. Beim RSV 1954 Venusberg ist sein Name auf Trikots zu finden, die junge Radsportler mit Stolz tragen. Sie sind Mitglieder des Junior-Teams von Burghardt. So etwas wie die Rasselbande des ehrwürdigen Radsportvereins, aber eine mit ernsthaften Ambitionen: Zahlreiche deutsche Meister finden sich in den Reihen des Teams.
Dass Marcus Burghardt (37) den Radsport-Nachwuchs in einem kleinen sächsischen Verein unterstützt, hat Gründe. Der Profi vom Raublinger Rennteam Bora-hansgrohe weiß, was er seinem Heimatverein zu verdanken hat. Man hat dort mit ostdeutscher Gründlichkeit die Grundlage für eine bemerkenswerte Laufbahn gelegt, die ihn vom Erzgebirge nach Europa führte. Zu Erfolgen bei Klassikern, einem Etappensieg bei der Tour de France, zum deutschen Straßentitel.
Als er diesen Titel 2017 in Chemnitz holte, trug Burghardt bereits das Trikot von Bora-hansgrohe. Ein Foto zeigt ihn ganz kurz nach dem Rennen, der Schweiß ist noch gar nicht getrocknet, es muss der allererste Weg gewesen sein, der ihn zu einem schnauzbärtigen Mann Mitte 60 führte: Klaus Fischer, sein Trainer von Kindheit an. Burghardt lächelt glücklich, Fischer stolz. Am Telefon klingt seine Stimme ein wenig nach gestresstem Feldwebel. Aber als guter Trainer muss er irgendwie auch immer ein Psychologe gewesen sein. Ein lustiger Typ, wie Burghardt erzählt, „aber mit harter Hand“.
Die DDR förderte
ihre Sporttalente
Fischer (69) war schon Radsporttrainer, als der Verein noch Betriebssportgruppe Fortschritt Venusberg hieß und man Radsportler bevorzugt für Spartakiaden ausbildete. Der Verein war Teil des Sportsystems der DDR, das vielversprechende Kinder aussuchte, zur entsprechenden Sportart steckte, mit den besten Trainern versorgte. Fischer war einer von denen, die wussten, wie man Talent erkennt und es ausbildet. Systematisch, mit Wissen und mit dem „Herzblut“, das Burghardt den Trainern zuschreibt, die ihrem Verein treu geblieben sind. Auch nach dem Ende der DDR, in der der Radsport immer eine viel größere Rolle gespielt hatte als in der BRD.
„Der hat mir am meisten beigebracht, was Training, Taktik, soziales Verhalten im Team betrifft“, sagt Burghardt. „Ich sag das heute noch, wenn man im Sport vorankommen will, dann braucht man einen strengen Trainer.“
Viele der besten deutschen Fahrer nach der Wende hatten diese Schule hinter sich. Eine Schule mit dunklen Seiten, mit Opfern. Auch Burghardt weiß, dass gedopt wurde. Von vielen wohl unwissentlich, „weil man ihnen gesagt hatte, das seien Vitaminpillen“.
Marcus Burghardt, spät genug geboren, um dem totalen System zu entgehen, aber auch früh genug, um von seinen Vorzügen und der Nestwärme zu profitieren. Er kam 1983 in Zschopau zur Welt, sieben Jahre vor der Wende. 1993 kam Burghardt zum Radsport. „Der hatte einen schwierigen Start“, sagt Fischer über seinen einstigen Schützling, der hatte einfach noch keine Ausdauer. Nach einem Jahr im Verein, „da war Marcus bereits unheimlich stark, in den Bergen, aber auch im Sprint“. Er trainiert seine Schützlinge, wie Burghardt fährt: „Das muss Spaß machen, aber es muss eine straffe Führung da sein.“
Vorbilder habe er keine gehabt, „es war immer der Spaß am Radfahren“, sagt Burghardt. „Ein bisschen übermotiviert, manchmal“, so beschreibt ihn sein Trainer, einer, der noch 20 Kilometer draufpackte, wenn die anderen froh waren, ihre Räder in den Keller zu schieben. 1997, als Jan Ullrich die Tour gewann, startete Burghardt durch, wurde dreifacher Schüler-Landesmeister von Sachsen und gewann Silber bei den Landesjugendspielen.
Während sich Burghardt auf dem Sportinternat in Chemnitz weiterentwickelte, begannen die Jahre, in denen man auf einmal ganz gut vom Radsport leben konnte. Nach der Wiedervereinigung schwärmten die jungen, guten Fahrer aus den früheren DDR-Talentschmieden aus und suchten sich namhafte Teams. Die Söhne gingen aus dem Haus, während der Übervater blieb: Täve Schur, überzeugter Sozialist bis heute. So ändern sich die Zeiten, und in ihnen die Sportler.
Seinen ersten Profivertrag erhielt Marcus Burghardt 2003 bei Team Wiesenhof, wo man die künftigen Protagonisten der deutschen Radsportszene ausbrütete. Es folgte der Team-Telekom-Nachfolger T-Mobile, schließlich BMC Racing, wo er 2011 Cadel Evans mit zum Toursieg verhalf. Dass er selber aufs Podest fahren kann, hatte er zuvor bewiesen, mit einem Etappensieg bei der Tour de France 2008 und dem Sieg beim Klassiker Gent-Wevelgem 2007.
Burghardt reiste durch die Welt, lebte in der Schweiz und in Frankfurt, fuhr Rennen um Rennen. „In manchen Jahren war ich 220 Tage unterwegs“, sagt er. Seit 2013 aber wohnt er in Törwang am Samerberg. 2017 kam zusammen, was dann wohl auch zusammenpasste, Team, Burghardt und der Fahrer, dem er als endschneller Fahrer helfen konnte: Peter Sagan, Rekordgewinner des Grünen Trikots. Kein Zufall vermutlich, dass Burghardt in diesem Jahr auch deutscher Meister wurde.
In Törwang ein
Zuhause gefunden
Wenn Burghardt über sein oberbayerisches Kapitel spricht, klingt es, als würde er es nach der Radsportkarriere fortschreiben wollen. Es gefällt ihm in Törwang, „ich habe hier mein Zuhause gefunden“. Mit seiner Freundin zur Ruhe gekommen zu sein, tut ihm gut. „Ich habe einen kleinen, aber sehr guten Freundeskreis“, sagt er, er fühlt sich angenommen, „was ja sonst nicht so einfach sein soll für einen Sachsen.“ Sogar Schafkopfen hat er gelernt.
Das muss noch mal warten, den Radsportkalender hat Corona gründlich durcheinandergebracht. Nun hat Burghardt Nachholbedarf. Er will bei Klassikern wie Gent-Wevelgem und der Flandern-Rundfahrt starten. Und vor allem am 25. Oktober bei Paris-Roubaix.
Ein Erfolg dort, in der „Hölle des Nordens“, „das wäre der Traum“, sagt er. Auch dieser Traum wurzelt tief in der Vergangenheit, in seiner Zeit in Venusberg. „Eine Liebe für dieses Rennen“, sagt Marcus Burghardt, „hatte ich schon von klein auf.“