Kiefersfelden – Ihre Erlebnisse behielt seine Mutter eigentlich immer für sich. Erst am Sterbebett, mit 84 Jahren, sagte sie zu Isak Schilling: „Unsere Familie hatte Glück.“ Schilling, der polnisch-jüdische Wurzeln hat, weiß noch, wie verwundert er über diese Aussage war. 74 Mitglieder seiner Familie wurden während des Krieges ermordet. Wie könne man da von Glück sprechen? Da erst wurde die Mutter genauer: Der Familie war wenigstens das KZ erspart geblieben.
Heute, am 27. Januar, wird der Holocaust-Opfer gedacht. Um die Erinnerung an die Gräueltaten der Nationalsozialisten wachzu- halten, hat der 67-Jährige vor einigen Jahren in seinem Garten in Kiefersfelden eine kleine Synagoge mit 18 Sitzplätzen erbaut. „Synagogen helfen, nicht zu vergessen“, ist er überzeugt.
Manchmal kommen Erinnerungen hoch
Isak Schilling ist ein Mensch, der nach vorne blickt. Einer, der nicht in der Vergangenheit verhaftet bleibt. Aber manchmal, insbesondere dann, wenn man ihn aus seinem Leben erzählen lässt, kommen schmerzhafte Erinnerungen hoch. „Dann ist der Tag gelaufen. Selbst jetzt stehen mir schon wieder Tränen in den Augen“, sagt der Münchner.
Geboren wurde Schilling in einem DP-Lager (Displaced Persons) in Wolfratshausen. Ein Auffanglager für Menschen, die damals den Nazis entkommen waren. Dort verbrachte er die ersten Lebensjahre, ehe die Familie nach Ingolstadt zog und dort in einer Friedenskaserne lebte. Auch in den 60er-Jahren lebten die Juden laut Schilling in Angst und Schrecken. Er und sein Bruder zum Beispiel wurden von anderen Kindern auf dem Nachhauseweg mit Steinen beworfen. Suchten er und seine Familie eine Synagoge auf, achtete man penibel darauf, nicht dabei gesehen zu werden. An all das und mehr erinnert sich Schilling beizeiten. Aber die meiste Zeit seines Lebens fokussiere er sich auf das Positive: Die „Gaudi“, die dürfe im Leben nicht fehlen.
Der Münchner spricht bairisch, liebt die Alpen und ist mit dem Inntal tief verwurzelt. In Kiefersfelden hat er viele Freunde. Vor rund 30 Jahren hat er dort einen alten Bauernhof gekauft, den er aufwendig über Jahre hinweg sanierte. Auch den Garten wollte er verschönern und einen kleinen Pavillon bauen. Als er sein Vorhaben in die Tat umsetzen wollte, wurde er von einem Vorbeigehenden angesprochen, ob er sich auf dem Grundstück jetzt eine Synagoge baue. Geärgert habe sich Schilling über diese Aussage. Aber seine Frau, die meinte das ernst: „Du brauchst dich doch nicht ärgern. Mach doch einfach wirklich eine Synagoge.“ Und da dachte sich der 67-Jährige: Warum eigentlich nicht?
Es folgte ein Entstehungsprozess von mehreren Jahren. Von 2007 bis 2016 steckte er jede freie Minute in den Bau des Gebetshauses. Und es gab so einige Hürden, erzählt Schilling. Angefangen von skeptischen Nachbarn, die bemängelten, das Fundament der Synagoge sei zu nah an der Grundstücksgrenze, bis hin zu einem befreundeten Kirchenmaler aus Prien, der ihm half das Innenleben der Synagoge künstlerisch zu gestalten: „Wir haben ein halbes Jahr daran hingemalt“, sagt Schilling. Doch eines Nachts, da sei der Kirchenmaler, der damals bei ihm zu Gast war, plötzlich aufgestanden und habe alles übermalt. Er sagte, er sei mit dem Ergebnis nicht zufrieden gewesen. Schilling verstand die Welt nicht mehr – denn jetzt mussten sie wieder von vorne beginnen.
Ein „Leuchtturm jüdischen Lebens“
Doch die Arbeit hat sich bezahlt gemacht: Zur Einweihung im September 2016 kamen rund 100 Gäste – darunter auch Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. „Ich war von Anfang an begeistert von Herrn Schillings Engagement. Seine Synagoge ist ein Leuchtturm des jüdischen Lebens mitten im Inntal“, sagt diese über den 67-Jährigen. Auch so viele Jahre nach dem Holocaust sei die Erinnerung daran nicht weniger dringend. „Im Gegenteil“, so Knobloch: „Wenn ich heute sehe, dass immer mehr Menschen und eine ganze Partei sich gegen die Gedenkkultur in unserem Land stellt, dann weiß ich, dass das Erinnern wichtiger denn je ist. Unsere Demokratie lebt von der Kenntnis der Geschichte und von unserem Engagement gegen das Vergessen.“
„Ich bin ein simpler, einfacher Mann“, sagt Schilling. Er brauche keine Anerkennung, er will nicht berühmt sein. „Ich freue mich einfach selbst darüber und bin stolz.“