Lockdown: „Wir können nicht mehr!“

von Redaktion

Friseurmeisterin erreicht mit Appell zur Solidarität 2,5 Millionen Menschen

Griesstätt – „Wir können nicht mehr“, ruft Brigitte Forstner ins Mikrofon – und ringt in ihrem Video, das seit Freitag auf Facebook über 2,5 Millionen Zugriffe erhielt, sichtlich um Fassung. Der 53-jährigen Friseurmeisterin aus Griesstätt reicht’s: Nach zwei Lockdowns mit je zehn Wochen Berufsverbot sagt sie: „Ich werde laut!“

Anlass für ihren Beitrag, der seit Freitag über 2000- mal geteilt wurde: Eine befreundete Kollegin, die sich das Leben nehmen wollte – weil sie existenziell am Ende ist, wie Brigitte Forstner im Video berichtet.

Solo-Selbstständigen
eine Stimme gegeben

Alleingelassen sieht auch sie sich – eine toughe Frau mit frecher, stylischer Kurzhaarfrisur. Und mit viel Herz für Tiere. Seit Jahren widmet sie sich in Kolbing, einem Ortsteil von Griesstätt, der Rettung von verwaisten Fohlen. Für dieses Engagement hat sie eine Facebook-Seite entwickelt: „Frau Vogel“ in Anspielung auf ihre erste Stute, die „Lady Bird“ hieß. Hier postet die Griesstätterin in der Regel gute Nachrichten und Videos aus dem Pferdeleben. 60000 Follower hat die Seite „Chance für Fohlenwaisen“ – eine Reichweite, die sie genutzt hat für einen persönlichen, emotionalen Appell an die Politik, das Corona-Krisenmanagement zu verbessern, und um den vielen Solo-Selbstständigen, die derzeit nicht arbeiten dürfen, ein Gesicht und eine Stimme zu geben.

Kraftvoll, aber auch immer wieder um Fassung ringend, erzählt sie der Wasserburger Zeitung, wie es ihr und ihren Kollegen – Friseure, Kosmetikerinnen, Fußpflegerinnen und Nageldesignerinnen – geht. Und nimmt dabei kein Blatt vor den Mund: „Wenn Unternehmer Scheiße bauen, müssen sie ihre Suppe selber auslöffeln, wenn aber vom Staat die Selbstständigkeit genommen wird, müssen die versprochenen Hilfen auch ankommen“, fordert sie. Die Hilfen gebe es nur schleppend oder unter erschwerten Bedingungen, so ihre Erfahrung. Brigitte Forstner selber muss vermutlich die erste Staatshilfe zurückzahlen, sagt sie. Die zweite könne sie bis heute nicht beantragen – und benötige dafür sogar eine Steuerberaterin.

Der Antrag auf Arbeitslosengeld sei ebenfalls nicht, wie versprochen, vereinfacht über die Bühne gegangen: Sie habe die Hilfe einer Freundin benötigt, um durch den Wust an Unterlagen durchzusteigen, und sich beim Gang zum Arbeitsamt furchtbar gedemütigt gefühlt.

Die Griesstätterin ist dreifach betroffen: Sie hat drei Einkommenszweige, die sie derzeit nicht ausüben kann: Friseurmeisterin – Salon geschlossen. Reitlehrerin – Unterricht verboten. Auch ihre pferdegestützten Therapien darf sie derzeit nicht anbieten. Sie überlebt, weil sie viele Freunde hat, die sie unterstützen – einen Korb Lebensmittel vorbeibringen, sie zum Essen einladen. Und weil sie den „besten Vermieter aller Zeiten“ hat. Nach vielen Jahren mit zwei Salons und zehn Mitarbeitern hat sie sich außerdem 2018 verkleinert und ist nur für sich selbst verantwortlich. Trotzdem fühlt sie sich wie eine Bittstellerin. „Ich habe eigentlich ein gutes Geschäft mit gutem Umsatz, lasst mich arbeiten, denn ich bin Unternehmerin, nicht Unterlasserin. Bitte lasst uns aufmachen, denn der Supermarkt hat doch auch auf“, appelliert sie an die Politik und erinnert an ausgefeilte Hygienekonzepte, die Friseure nach dem ersten Lockdown entwickelt haben.

Brigitte Forstner legt Wert auf die Feststellung, dass sie nicht an den dramatischen Folgen der Virus-Erkrankungen zweifelt – und verstehen kann, dass es die Politik in dieser Krise schwer hat, die richtigen Entscheidungen zu fällen.

Doch Geschäfte und Betriebe, die vom Lockdown betroffen seien, dürften nicht alleingelassen werden. „Das muss aufhören.“ Im Raum Rosenheim gebe es viele Friseure – Selbstständige mit eigenem Betrieb oder Angestellte –, die kein Geld mehr hätten, um die Familie zu ernähren. Denn die Rücklagen seien aufgebraucht. Krankenversicherung, Miete, Strom: Die Kosten gehen schließlich weiter. Die Griesstätterin beispielsweise muss an ihr Erspartes herangehen, das für die Rente gedacht ist.

Brigitte Forstner sitzt in ihrem kleinen, hübschen Salon auf dem Land, die Handwerkerzeitung, die das Gleiche fordert wie sie, nämlich Hilfen, die endlich ankommen, auf den Knien – und hofft nun, dass ihr Video auf Facebook die Verantwortlichen erreicht. Über 2000 User haben es geteilt, 237000 Menschen kommentiert und mit eigenen Beiträgen ergänzt. Die Resonanz: überwältigend und Mut machend. Die 53-Jährige aus Griesstätt hat inzwischen über 2,5 Millionen Menschen erreicht – auch die Verantwortlichen aus der Politik? „Ich würde gerne mit Markus Söder sprechen“, sagt sie kämpferisch. „Und ich werde meine Klappe nicht länger halten.“

Das sagt die Landesinnung: „Durch Fleiß um staatliche Hilfen gebracht“

Warum greifen die Hilfsprogramme des Bundes oft bei Friseuren nicht? Die Geschäftsführerin des Landesinnungsverbands, Doris Ortlieb, nennt zwei Gründe. Bis heute könnten die Betriebe nicht die vor dem zweiten Lockdown versprochenen Überbrückungshilfen beantragen, obwohl bereits eineinhalb Monate verstrichen seien. Außerdem würden sich die Überbrückungshilfen auf den Kalendermonat beziehen. Voraussetzung für eine finanzielle Hilfe sei ein Umsatzrückgang von 30 Prozent. In der ersten Dezemberhälfte hätten viele Friseure jedoch – auch angesichts des erwarteten erneuten Lockdowns und hohen Kundenzuspruchs – sehr viel gearbeitet. „Viele Betriebe werden jetzt durch ihren Fleiß um staatliche Hilfen gebracht“, bedauert Ortlieb. Dies gilt auch für die Griesstätter Friseurmeisterin Brigitte Forstner. „Ich war zu fleißig“, sagt sie. Viele Betriebe haben in der ersten Dezemberhälfte und wenige Tage vor dem Lockdown jedoch Überstunden bezahlen müssen. Den höheren finanziellen Aufwand könnten viele nicht komplett wieder reinholen, würden aber aufgrund guter Umsätze aus den Hilfsprogrammen fallen, ergänzt Ortlieb.

Unternehmer würden vom Gewinn leben, nach Abzug der Fixkosten bleibe für sie selber im Lockdown oft nicht viel übrig. Es gebe die Möglichkeit, Grundsicherung zu beantragen. „Das ist jedoch ein großes psychisches Problem“, stellt die Innungsgeschäftsführerin fest. Der Gang zum Arbeitsamt entspreche nicht dem Selbstverständnis viele Selbstständiger. Versprochen worden sei eine einfach Antragstellung. Fest stehe, jeder Unternehmer im Friseurhandwerk müsse trotzdem einen Stapel von Unterlagen mit 30 bis 50 Anlagen ausfüllen. „Unbürokratisch ist das nicht, im Gegenteil.“ Ortlieb appelliert deshalb im Namen der Innungsbetriebe an die Politik und Krisenmanager: „Lasst uns arbeiten!“ Sich die Haare schneiden zu lassen, sei ein Grundbedürfnis vieler Menschen. Und es gebe sogar Kunden, die sich nicht selber die Haare waschen könnten und auf diesen Service angewiesen seien. Die Innungsbetriebe hätten nach dem ersten Lockdown umfangreiche Hygieneprogramme entwickelt. Die Kunden hätten bestätigt, sich sicher zu fühlen. Auch nach dem Lockdown erwartet Ortlieb Probleme, wie die Erfahrungen aus dem ersten zeigen würden. Wenn die Geschäfte wieder geöffnet seien, würden die Friseure wieder extrem viel arbeiten, im Sommer erwarte die Branche einen Umsatzeinbruch. „Auch diese Delle fängt niemand auf.“ duc

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