Sachrang/Aschau – „Ich frage ein paar Leute auf der Straße und stelle schnell fest: Die meisten Menschen wissen gar nicht, dass Werner Herzog hier gelebt hat“, schreibt Moritz Holfelder, Autor einer inoffiziellen Biografie Herzogs, über seine Recherchen vor Ort 2012.
„Es gibt durchaus noch ein paar ältere Sachrangerinnen und Sachranger, die sich an ihn erinnern können“, berichtet unterdessen Sachrangs Bürgermeister Simon Frank. „Aber es sind nicht mehr viele. Unserem Heimat- und Geschichtsverein und der Kulturszene ist er und seine Zeit hier selbstverständlich wohlvertraut.“ Im Gemeindearchiv gäbe es außerdem umfangreiches Material.
Zeitlebens
ein Staunender
Am gestrigen Montag, den 5. September 2022, konnte Herzog nun seinen 80. Geburtstag feiern. Anlässlich dessen sind im Carl Hanser Verlag seine Lebenserinnerungen erschienen. „Jeder für sich und Gott gegen alle“ heißt das Buch. „Werner Herzog kam in seinem Leben aus dem Staunen nie heraus. Das macht ihn aus, und das ist die große phänomenologische Erkenntnis, die einem von dem Buch bleibt: Wer staunt, hat mehr vom Leben“, schreibt Andreas Schreiner in seiner Rezension für die Neue Zürcher Zeitung darüber.
„Mit der Sprache weiß Werner Herzog wie kein zweiter deutscher Filmemacher umzugehen, auch diese Fertigkeit macht die Lektüre seiner Erinnerungen zu so einem beglückenden Erlebnis. Überhaupt zeigt dieses Buch, dass wir in Herzog einen Schriftsteller sui generis vor uns haben“, schwärmt wiederum Knut Cordsen in seiner Besprechung für den Bayerischen Rundfunk.
Darin findet sich auch eine Schilderung seiner Zeit in Sachrang. Geboren wurde Werner Herzog am 5. September 1942 in München. Nach einem Angriff der britischen Luftwaffe zwei Wochen darauf wurde die Familie, konkret er, seine Mutter Elisabeth und sein Bruder Tilbert, dorthin evakuiert. Vor Ort lebten sie im Zuhäusl des Bergerhofs im Ortsteil Berg. Der Vater war als Offizier an der Front. Werner Herzog selbst beschreibt das Leben dort als „mit Gefahren durchsetzte Idylle, bloß eine, die die Katastrophen, die Verwerfungen und Flüchtlingsströme des Zweiten Weltkriegs erzwungen hatte. Wir hatten eine herrliche Zeit, vor allem, weil es wie bei uns fast nirgends im Dorf Väter gab, alles war in einem Zustand der Anarchie im besten Sinne. Ich, allen voran, war heilfroh, dass wir einen Feldwebel zu Hause hatten, der uns sagte, wie wir uns zu benehmen hatten.“
Doch den Weltkrieg bekam er auch dort mit. In der Reihe „Nachdenken über Deutschland“ der Münchner Kammerspiele berichtete Herzog selbst 1983: „Meine Mutter hat meinen älteren Bruder und mich nachts aus dem Bett gerissen, uns an die Hand genommen, ein Stück weit den Berghang hinter dem Haus hinaufgeführt und gesagt: Kinder, ich habe euch aus dem Bett geholt, schaut, hier brennt Rosenheim.“
Erinnerungen spiegeln sich in Filmen wider
Es handelte sich dabei vermutlich um einen Luftangriff am 18. April 1945. Dabei fielen von 14.40 bis 14.55 Uhr aus rund 200 Flugzeugen etwa 1300 Bomben in das Gebiet um den Rosenheimer Bahnhof. Es gab 53 Tote und 36 Verletzte. Vermutlich beobachtete die Familie Herzog nicht den Luftangriff selbst, sondern den Feuerschein der dadurch ausgebrochenen Brände am Abend.
Seine Kindheit in Sachrang spiegele sich auch in seinen Filmen wider, wie sein Biograf Moritz Holfelder erläutert. In diesen werde beispielsweise so gut wie nie telefoniert oder Auto gefahren. Vor allem aber habe ihn die Beobachtung vieler widerständiger und eigenbrötlerischer Figuren geprägt. In seiner Autobiografie finden sich ausführliche Passagen über Gestalten wie den Knecht „Sturm Sepp“ oder die „Oberkaser-Marie“, eine Sennerin, die noch bis ins hohe Alter auf der Oberkaser-Alm arbeitete. „Ich kann mir gut vorstellen, das all das einem eine kindheitliche Prägung gibt, die ganz anders ist, als wenn man in normalen Zeiten in der Stadt aufwächst“, bemerkt auch Aschaus Bürgermeister Simon Frank.
Die damals abgelegene Lage Sachrangs hatte jedoch auch drastische Auswirkungen. Als Herzog mit fünf Jahren mitten im Winter schwer krank wird, macht es keinen Sinn einen Krankenwagen zu rufen. Das Dorf ist komplett eingeschneit. Stattdessen beförderte seine Mutter ihn auf einem Schlitten bis in das kleine Krankenhaus in Aschau. Schließlich sieht Herzog im Alter von elf Jahren in der Dorfschule von Sachrang seinen ersten Film. Später schilderte er, er sei „von dem ersten Film, der Eskimos zeigte, die ein Iglu bauten, nicht sehr angetan“ gewesen. Erst der nächste Film über Pygmäen, die eine Brücke über einen Fluss bauten, habe ihn dann beeindruckt.
1954, Herzog ist nun zwölf Jahre alt, zieht die Familie zurück nach München. Dort traf er in einer Pension in der Elisabethstraße auf den heute höchst umstrittenen Schauspieler Klaus Kinski. Mit ihm sollte seine Karriere im Film eng verbunden sein. In München nimmt seine Karriere ihren Lauf, 1962 veröffentlicht er seinen ersten Film, 1963 gründet er seine eigene Produktionsfirma. Schließlich, mit 24 Jahren, dreht er seinen ersten Spielfilm und etabliert sich zunehmend als Regisseur von Weltrang. 1982 kehrte er für eine besondere Aktion noch einmal in den Ort seiner Kindheit zurück. 1982 will er von dort aus einen besonderen Fußmarsch „zur Rettung Deutschlands“ starten.
Wanderung um Deutschland herum
„Die Vorstellung hat mich nie verlassen, dass, wenn ich um Deutschland herumginge, es umkreisen, fast wie mit einem Gürtel umgeben würde, dass alleine durch diesen Gang Deutschland auch in einer Weise zusammenhaltbar wäre“, erzählte er später.
Am 15. Juni 1982 bricht er dazu von der Sachranger Ölbergkapelle auf. Er wandert immer weiter, Richtung Allgäu, zum Bodensee. Dann weiter entlang der westlichen Grenze nach Norden. Sein Plan war, an der Ostseite wieder Richtung Süden und schließlich über Berchtesgaden wieder nach Sachrang zu laufen. Nach Erreichen der Nordseeküste musste er sein Vorhaben jedoch krankheitsbedingt abbrechen. Die Deutsche Einheit kam dann bekanntlich trotzdem neun Jahre später.
„Vielleicht schaut er noch einmal bei uns vorbei“, meint Aschaus Bürgermeister Simon Frank abschließend. „Ich wünsche ihm auf jeden Fall an dieser Stelle alles Gute zu seinem Geburtstag!“