Oberaudorf – Über 20 Stühle stehen in dem Raum im zweiten Stock. Zu viele. Nur drei Frauen sind zum Demenz-Workshop gekommen. Dabei leben in Deutschland rund 1,8 Millionen Menschen mit der Krankheit. Laut Bundesfamilienministerium wird die Zahl der Betroffenen bis zum Jahr 2050 voraussichtlich auf 2,8 Millionen steigen.
Typische
Alterskrankheit
„Die Leute kommen nur dann, wenn es akut ist“, sagt Hanna Zenker, Hausleiterin des Pflegezentrums Pur Vital. Viele müssten am Dienstagnachmittag um 14 Uhr noch arbeiten. Die meisten hätten jedoch große Hemmungen, ein Pflegeheim zu betreten.
Das müsse sich ändern. Denn Demenz ist Zenker zufolge eine typische Alterskrankheit. 50 Prozent der Betroffenen müssten nach einem Jahr stationär betreut werden. In dem Oberaudorfer Heim haben 26 von 60 Bewohnern die Diagnose.
Einer, der sich um die Senioren kümmert, ist Daniel Grosche. Der Pfleger erklärt, dass bei der Krankheit das Kurzzeitgedächtnis sowie Langzeitgedächtnis beeinträchtigt werden. Auch die Aufmerksamkeit, die Sprache, die Orientierung, das Auffassungs- und Denkvermögen leiden darunter. „Es gibt kein Anti-Demenz-Mittel“, sagt Grosche. Die Krankheit sei dauerhaft und der Zustand der Patienten verschlechtere sich mit der Zeit. Die Symptome seien sehr individuell. Die Ursache der Krankheit ist dem Pfleger zufolge eine Schädigung der Gehirnzellen. Es wird in primäre (hirnorganische) und sekundäre (nicht-hirnorganische) Demenzen unterschieden. Zur ersten Gruppe gehört zum Beispiel die Alzheimer-Demenz.
Sie führt zum Abbau von Nervenzellen im Gehirn und zur Einschränkungen der Fähigkeiten. Zur zweiten Gruppe gehören Demenzen aufgrund von Depressionen, Medikamenten, entzündliche Erkrankungen, Vitamin-B-Mangel, Alkohol- und Drogenmissbrauch.
Drei alkoholabhängige Demenzkranke leben laut Hausleiterin Zenker aktuell in dem Heim. Es komme vor, dass die Menschen vergessen, dass sie keinen Alkohol mehr trinken, nicht mehr rauchen oder kein Fleisch essen. Die Familienmitglieder seien davon meist nicht begeistert. „Wir haben Diskussionen mit Angehörigen, die Kranken ihren Willen aufzwingen wollen“, sagt Zenker. Doch das funktioniere nicht.
„Mein Vater isst das, was auf den Tisch kommt. Er hat vergessen, dass er Vegetarier ist“, sagt Ingo Mayer. Er ist wenige Minuten verspätet zu dem Workshop gekommen. Sein Vater lebt seit eineinhalb Jahren in dem Pflegezentrum. Der fleischessende Vegetarier ist laut Zenker kein Einzelfall: „Wenn man als Kind schon Vegetarier war, geht‘s.“ Haben sich die Menschen erst später im Leben für fleischlose Kost entschieden, sei es schwierig. Ein Mann habe seinem Nachbarn sogar das Salamibrot geklaut, weil er selbst kein Fleisch bekommen hat.
„Das sind freie Menschen mit freiem Willen“, sagt Zenker. Das müssten nicht nur die Angehörigen akzeptieren. Von den Nachbarn des Heims gingen regelmäßig „böse Anrufe“ ein, wenn die Senioren auf der Straße herumirren.
Doch es gebe keine Ausgangszeiten. Die Bewohner dürften frei entscheiden, was sie tun möchten. Außer sie leben in der „beschützten Abteilung“. Dafür brauche es jedoch einen richterlichen Beschluss. Die Leiterin findet: „Es ist nicht schön, wenn jemand ständig raus will, weil er sich dort nicht wohlfühlt.“
Der freie Wille sei wichtig für die Patienten – bei Bewegung, Kleidung oder Hobbys. Eine Teilnehmerin berichtet, dass ihr Mann nicht mehr lesen wolle, obwohl er das früher gern getan habe. „Das ist o.k., nicht zu etwas zwingen“, sagt Ergotherapeutin Bernadette Bichler. Ihr Kollege Grosche rät, Betroffene nicht mehr mit Dingen zu konfrontieren, die nicht funktionieren. Das wühle sie nur auf. „Immer mit Respekt behandeln“, sagt der Pfleger. Die Wertschätzung des vorherigen Lebens sei wichtig, die Gewohnheiten anzuerkennen auch. Hat ein Demenzkranker immer dieselbe Creme benutzt, solle er das weiterhin tun. Gerüche regen laut Grosche das Gehirn an.
Solche Einzelheiten sollten die Angehörigen den Mitarbeitern im Heim mitteilen. „Das ist keine Neugierde, das wird uns oft unterstellt“, sagt Bichler. Es gehe darum, etwas über die Gewohnheiten, Prägung, Erinnerungen, Freunde, Familie, Arbeit und Interessen des Menschen herauszufinden. Die Ergotherapeutin nennt das „Biografiearbeit“.
Vieles in der
Erinnerungskiste
Auch eine Erinnerungskiste kann den Betroffenen helfen. Ob Schmuck, Foto, Haarbürste, Rasierpinsel oder Autoschlüssel – alles, was den Patienten etwas bedeutet, sollte in die Schachtel. So können sie sich laut Bichler womöglich wieder erinnern. Gegenstände aus dem eigenen Zuhause könnten den Betroffenen helfen, sich wohlzufühlen. Etwa das eingesessene Sofa, die Nachttischlampe oder die Lieblingstasse. „Geht das noch eineinhalb Jahre später?“, fragt Ingo Mayer. Die Mitarbeiter raten dem Angehörigen dazu.
Alle Teilnehmer scheinen etwas aus dem Workshop mitgenommen zu haben. Eine Frau will eine Erinnerungskiste für ihre Mutter machen. Ihre Sitznachbarin will versuchen, ihren Mann an die Tagespflege heranzuführen. Und Ingo Mayer will seinem Vater seinen Stuhl bringen. Neben den Tipps schätzt der Angehörige auch das Verständnis: „Es hilft, dass man das als etwas Normales begreift. Das Schicksal teilen viele.“