„Erschöpfung wurde nie ernst genommen“

von Redaktion

Interview Professor Young über bekannte Symptome bei Post-Covid-Patienten

Bad Feilnbach – Post-Covid-Patienten fühlen sich alleingelassen, weil es kaum Therapien für sie gibt. Wieso die Krankheit noch nicht erforscht ist, ihre Symptome aber trotzdem schon seit Jahrzehnten bekannt sind, erklärt Professor Dr. med. Peter Young im OVB-Interview. Er ist Chefarzt der Rehabilitationsklinik für Neurologie im „Medical Park Bad Feilnbach Reithofpark“.

Gibt es eine Erklärung dafür, dass ausgerechnet sportliche und extrem leistungsorientierte Menschen an Post-Covid erkranken?

Nein. Warum einige Menschen ein Post-Covid-Syndrom entwickeln oder an einer Post-Covid-Rückenmarksentzündung erkranken und andere nicht, ist bislang nicht geklärt. Nach unseren Erfahrungen gibt zwei große Gruppen von Menschen, die am Post-Covid-Syndrom leiden. Zum einen sind das die oft sehr sportlichen und in vielen Bereichen sehr leistungsorientierten Menschen, die nach der Erkrankung vor allem unter einer starken körperlichen Erschöpfung leiden. Und dann gibt es die andere Gruppe von Patienten, die auch die enorme Erschöpfung spüren, bei denen aber vor allem psychische Veränderungen im Vordergrund stehen, also beispielsweise Antriebslosigkeit, unglaubliche Empfindlichkeit für äußere Reize wie Geräusche, die sogenannte Dünnhäutigkeit.

An der Rehaklinik für Neurologie in Bad Feilnbach werden vor allem Patienten nach Schlaganfall, mit Muskelerkrankungen und Schlafstörungen, aber auch mit dem Post-Covid-Syndrom behandelt. Welche Therapien bieten Sie Ihnen?

Wir bieten den Post-Covid-Patienten ein Programm an, in dem körperliche und geistige Anforderungen langsam gesteigert werden – mit angemessenen Ruhepausen und mit ausreichender Zeit der Erholung – also beispielsweise eine Einheit zum Gehen am Tag und nichts Weiteres. Die meisten Post-Covid-Patienten sind acht bis zehn Wochen bei uns. Sie lernen an der Seite von Physiotherapeuten, Sporttherapeuten und Psychologen, ihren Takt wiederzufinden. Dazu braucht es vor allem Zeit und Geduld.

Kann man der Erschöpfung nicht auch begegnen, indem man sich zusammenreißt und seine Fitness regelmäßig und aufbauend trimmt?

Um eines ganz klar zu sagen: Mit „Zusammenreißen“ hat die Genesung von Post-Covid-Patienten gar nichts zu tun. Wir wissen, dass es aufgrund der körperlichen und psychischen Situation Menschen gibt, die so erschöpft sind, dass sie sich nicht mehr bewegen können. Zu uns in die Reha kommen Patienten, die wieder selbstständig sind. Das Besondere bei den sehr leistungsorientierten Menschen ist, dass sie in ihrer Leistungsanforderung erst einmal so stark „runtergesetzt“ werden müssen, wie sie sich das vorher gar nicht hätten vorstellen können. Ein Mensch, der früher ganz locker zehn Kilometer gejoggt ist, kann jetzt eben auch keine zwei Kilometer mehr joggen. Daher ist es häufig so, dass die Patienten dazu neigen, sich selbst zu überfordern. Dann erleben sie regelrechte Abstürze, und die wollen wir vermeiden.

Wie geht das?

Wir fangen ganz langsam an, auch wenn die Patienten dann denken: Das kann doch sogar meine Großmutter. Das Problem ist, dass die kurzfristige Leistungsfähigkeit möglicherweise besteht. Aber wenn sich Betroffene überfordern, erleben sie eine sogenannte post-exertionelle Malaise. Das ist eine typische belastungsinduzierte Symptomverschlechterung. Je häufiger man diese hat, desto schlechter wird das Gesamtbild. Dafür gibt es keine wirkliche Erklärung. Wahrscheinlich, weil die Ressourcen oder Speicher, die kurzzeitig aufgebaut waren, wieder ausgeschöpft wurden.

Aber: Die körperliche und geistige Erschöpfung wird besser, wenn man dosiert und geduldig trainiert. Deshalb heißt die Methode auch Pacing – also so viel wie „Tempo halten“. Patienten müssen mit ihren körperlichen, geistigen und seelischen Ressourcen schonend umgehen, sie gut einteilen und weniger tun, als es ihre Kraft gerade erlaubt.

Post-Covid-Patienten probieren auf eigene Kosten alle möglichen, erfolgversprechenden Therapien aus, um schneller gesund zu werden. Welche Therapien empfehlen Sie?

Alle Therapien, die die körperliche Leistungsfähigkeit behutsam wieder entwickeln, machen Sinn. Aber die wirksamste Therapie ist das individuelle Pacing: Herauszufinden, wie weit ich gehen kann. Dort, wo ich erkenne, dass ich mich überfordert habe, muss ich das Training wieder um die Hälfte reduzieren. Wenn ich beispielsweise erkenne, dass die Gehstrecke zu lang war, nehme ich sie wieder um ein Viertel zurück. Ziel ist es, die post-exertionale Malaise zu verhindern.

Auch der Schlaf spielt eine wichtige Rolle. Viele Post-Covid-Patienten klagen über Schlafstörungen. Wir sehen die Regulation des Schlafes als einen Baustein zur Verbesserung der Post-Covid-Symptome an.

Kann der Genesungsprozess länger als ein, zwei oder sogar drei Jahren dauern?

Man kann im Augenblick nicht absehen, wie lang die Erkrankungsdauer wirklich ist. Nach der akuten Covid-Erkrankung sehen wir eindeutig, dass es im Verlauf der Erkrankung Besserung und auch Ausheilung geben kann, aber die Zeiträume lassen sich nicht verallgemeinern.

Wir haben nach zehn Wochen Rehabilitation viele Patienten entlassen können, die etwa 70 Prozent ihrer Leistungsfähigkeit erreicht und eine Perspektive auf Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt hatten. Aber wir mussten Patienten auch krankgeschrieben entlassen – in der Hoffnung, dass danach in der ambulanten Reha eine weitere Verbesserung stattfinden kann. Leider gibt es im Bereich der Neurologie bislang nur sehr wenige ambulante Angebote.

Warum erzeugt Post-Covid diese schwere Erschöpfung?

Die Fatigue – also die schwere körperliche, geistige und seelische Erschöpfung – wird nach wie vor von der Medizin ganz schlecht verstanden. Es gibt dafür keine biologische Erklärung. Auch bei anderen Viruserkrankungen – wie beispielsweise dem Pfeifferschen Drüsenfieber, das durch das Epstein-Barr-Virus verursacht wird – kann danach eine sehr lange Erschöpfungsphase bestehen. Es gibt aber auch Menschen, die das Chronic-Fatigue-Syndrom haben, ohne dass eine Viruserkrankung vorangegangen ist. Fatigue ist ein Symptom, das wir auch von Tumor-, Rheuma- oder Muskelerkrankungen kennen. Und dabei geht es nicht um ein einfaches Müdesein, sondern die Betroffenen sind richtig fertig. Auch das Coronavirus scheint in diesem Bereich zu Veränderungen zu führen, die wir nicht erklären können, die aber zu einer Fatigue führen können.

Die Betroffenen klagen auch über Wortfindungsstörungen und Erinnerungslücken.

Eine geistige Erschöpfung wirkt sich auf die Konzentrationsfähigkeit aus. In der Neurologie wird auch der Begriff „Brain Fog“ – also Nebel im Kopf – verwendet. Er beschreibt Konzentrationsprobleme, Orientierungsschwierigkeiten, Wortfindungsstörungen, plötzliche Vergesslichkeit, mentale Erschöpfung oder das Gefühl, keinen klaren Gedanken mehr fassen zu können.

Die chronische Fatigue ist seit mehr als 50 Jahren bekannt. Welche Ursachen hat diese Erkrankung?

Das Fatigue-Symptom ist ein typisches Begleitsymptom vieler chronisch-entzündlicher Erkrankungen. Es gibt verschiedene Ansätze zur Erklärung der Fatigue – beispielsweise biologische Faktoren, möglicherweise auch eine Veranlagung oder auch genetische Aspekte. Aber man weiß es tatsächlich nicht genau. Neben dem Fatigue-Symptom gibt es aber auch die Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS). Das ist eine schwere Erkrankung, deren Ursachen auch bislang nicht geklärt sind, und die oft zu einem hohen Grad körperlicher Behinderung führen kann. Weltweit sind etwa 17 Millionen Menschen betroffen. Auch diese Krankheit ist kaum erforscht.

Es gibt viele Erkrankungen, die wir zwar sehen, aber deren Ursprung wir nicht erklären können. So wissen wir auch nicht, warum eine Multiple Sklerose, eine Demenz, eine Zuckerkrankheit oder ein Hypertonus entstehen, auch wenn wir sie behandeln können.

Hat das Coronavirus die Sicht auf das Erschöpfungssymptom Fatigue verändert?

Das Fatigue-Symptom wurde vor Corona nicht ernst genommen. Viele Betroffene wurden stigmatisiert als Menschen, die nicht arbeiten wollen, die nur depressiv sind, die psychische Probleme haben. Mittlerweise sieht man aber, dass der Auslöser für das Erschöpfungssymptom durchaus eine akute Erkrankung sein kann. Es existieren inzwischen auch Hinweise auf Veränderungen in der Immunkonstellation von Chronic-Fatigue-Patienten oder Auffälligkeiten wie vermehrte Entzündungswerte im Blut. Auch hier gibt es zwar die Beobachtung, aber noch keine Erklärung für die Ursachen.

Apropos Blut. Post-Covid-Betroffene wünschten sich, dass die Plasmapherese von den Krankenkassen bezahlt wird, weil sie gute Ergebnisse verspricht. Wissen Sie, warum diese Therapie noch nicht anerkannt ist?

Wir warten darauf, dass die Daten für Plasmapheresen so publiziert werden, dass man sie als wissenschaftliche Erkenntnisse betrachten kann. Dazu fehlen aber Datensammlungen, die die Fälle und die Wirksamkeit der Therapie beschreiben. Randomisierte kontrollierte Studien sind die beste Möglichkeit, um zuverlässiges Wissen über den Nutzen von Behandlungsmaßnahmen zu erhalten. Wäre das Verfahren der Plasmapherese wissenschaftlich anerkannt, würden die Krankenkassen auch die Kosten übernehmen.

Das Bundesgesundheitsministerium geht davon aus, dass bis zu 15 Prozent der einst mit dem Coronavirus Infizierten an Post-Covid erkranken. Was bedeutet das für die Gesellschaft?

Post-Covid ist zu einem sozial-medizinischen und gesellschaftlich relevanten Phänomen geworden, was auf dem Arbeitsmarkt zu einer Verknappung der Ressourcen führt. Das wird auch erkannt, wie die Bemühungen des Bundesgesundheitsministers zeigen. Derzeit sind meines Wissens etwa 40 Millionen Euro für die Versorgungsforschung eingeplant. Karl Lauterbach fordert weitere 60 Millionen Euro, um eine Forschung auf dem wirklich erforderlichen Niveau zu fördern.

Kommt diese Forschungsinitiative

nicht viel zu spät?

Ich finde, dass unglaublich schnell Impfstoffe entwickelt wurden, mit denen Milliarden von Menschen geimpft werden konnten. Das hat es in einer vergleichbaren Größenordnung noch nie gegeben. Wir haben innerhalb von drei Jahren die Erkenntnis, dass Post-Covid sehr häufig auftritt. Dem folgt der politische Wille, in die Forschung zu investieren. Diese Geschwindigkeit ist enorm.

Interview: Kathrin Gerlach