Ein Dorf wie viele im Dritten Reich

von Redaktion

Enormes Interesse an Buchvorstellung über Aschau während des Nationalsozialismus

Aschau – „Für eine Kultur des Hinsehens“ warb in seinem Videogrußwort Dr. Ludwig Spaenle, Beauftragter für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus, für Erinnerungsarbeit und geschichtliches Erbe, bei der Vorstellung des Buches „Nationalsozialismus auf dem Dorf“ von Dr. Maria Anna Willer.

Nicht alle Besucher
fanden Platz

War die Veranstaltung des Aschauer Heimat- und Geschichtsvereins in Zusammenarbeit mit dem Rosenheimer Verein „Gesicht zeigen gegen Rechtsextremismus“ zunächst im evangelischen Gemeindesaal geplant gewesen, wurde sie wegen des großen Interesses in den ungleich größeren katholische Pfarrsaal verlegt. Auch der platzte aus allen Nähten, und bei Weitem nicht alle Besucher fanden Einlass. Es zeigt sich einmal wieder, dass ein besonderes Interesse in der Bevölkerung besteht, auch heute – drei Generationen nach den Ereignissen – noch Genaueres über die NS-Zeit zu erfahren und zu sehen, was sich zwischen 1933 und 1945 in der unmittelbaren Nachbarschaft abspielte.

Die Vorsitzende des Aschauer Heimat- und Geschichtsvereins, Dr. Natascha Mehler, begrüßte alle Besucher im übervollen Pfarrsaal. Interessenten gab es genug: Aus Aschau kamen alle drei Bürgermeister ins Pfarrheim, dazu die Bürgermeister von Frasdorf, Prien, Bad Endorf, Rohrdorf und Berchtesgaden. Dazu begrüßte Dr. Mehler zahlreiche Gemeinderäte, die Vertreter der Heimatvereine aus dem weiten Umkreis und mehrere Abgeordnete, Christoph Maier-Gehring vom Kulturverein im Landkreis Rosenheim, Dr. Margot Hamm und Dr. Stefan Breit vom Haus der bayerischen Geschichte und Claudia Binswanger vom Bayerischen Verein für Heimatpflege waren ebenfalls dabei, Letztere moderierte den Abend.

Dr. Willer stellte zunächst ihr Projekt vor: Sie habe mit ihrer Doktorarbeit einen weiteren Beitrag zur vielbändigen Chronik der Gemeinde Aschau geliefert. In den bisher erschienenen Bänden sei das Thema NS-Zeit nur sporadisch vorgekommen, anscheinend war in den 1990er-Jahren die Zeit noch nicht reif für eine umfassende Aufarbeitung. Durch die Vorarbeiten für die Quellenbände und durch zahlreiche Interviews mit Einwohnern des Prientals, die aus zweiter Hand über die damaligen Ereignisse berichten konnten, waren wichtige Grundsteine gelegt. Dazu kam als besonderer Glücksfall die Entdeckung eines vergessenen Teils des Archivs auf dem Dachboden der alten Gemeindekanzlei. Während sonst NS-Unterlagen unmittelbar bei Kriegsende oder spätestens mit dem Ende der Aufbewahrungsfrist nach 30 Jahren sowie beim Neubau der Rathäuser überall in der Region vernichtet wurden und durch den Schredder gingen, war hier ein Aktenbestand erhalten geblieben, der ganz dezidiert zu den Verhältnissen der Gemeinde Auskunft geben konnte. Dieser Bestand ist weitgehend einmalig und stellt eine wertvolle Grundlage für alle weiteren Ermittlungen dar.

Gingen viele der Besucher bisher davon aus, dass der Nationalsozialismus auf dem Dorf keine große Rolle gespielt habe und das Leben seinen gewohnten Gang weiterging, so konnten sie an vielen ausgewählten Beispielen und Passagen aus Willers Buch erkennen, dass dem nicht so war. Die Organisationen der NSDAP und ihrer Gliederungen reichten bis in den letzten Winkel des Reiches, reichten bis ins Gebirgsdorf Sachrang. Durch die genaue Kenntnis der Verhältnisse in der Nachbarschaft und das ausgeklügelte Blockwart-Überwachungssystem war den Denunziationen genauso Tür und Tor geöffnet wie in den Städten.

Bei ihrer Arbeit stellte Dr. Willer drei Fragen und versuchte, sie im Lauf ihrer Arbeit zu beantworten: Wie geschah die Ausgrenzung zwischen 1933 und 1945 auf Dorfebene? Wie gestaltet sich die Erinnerung im Dorf an diese Zeit heute und bei denen, die die Ereignisse ja nur noch aus zweiter Hand kennen? War es auf dem Dorf anders als in den Städten oder waren die Verhältnisse und damit die Ereignisse gleich?

Für alle Fragen fand sie Antworten, sei es in den Gesprächen oder in den Archivbeständen vor Ort und in der ganzen Republik. Grundlage für die totale Überwachung war auch im Fremdenverkehrsort Aschau ein dichtes Überwachungsnetz und der Aufbau einer schlagkräftigen Parteistruktur. Die Zusammenlegung von politischen und Parteiämtern erleichterte den Durchgriff der oberen Führung bis in den letzten Winkel. Durch die Erfolge der NSDAP in den ersten fünf Jahren verdoppelte sich die Zahl der Parteimitglieder auch in Aschau und Sachrang. Alle Vorhaben, die im Reich durchgeführt wurden, von der Arisierung jüdischer Geschäfte über die Verfolgung der verbliebenen Juden, die Ausgrenzung von Sinti und Roma, die Verhaftung von politisch Unliebsamen bis hin zur Erfassung und Deportation der körperlich und geistig eingeschränkten Einwohner und dem Einsatz von Zwangsarbeitern, wurden auch im Priental durchgeführt. Auch die Abgeschiedenheit von Sachrang bot keinen Schutz vor Verfolgung.

Dr. Willer stellte drei ausgewählte Fälle ausführlich vor. Kein einziger Fall sei nach dem Krieg mit den Betroffenen zeitgenössisch dokumentiert, in keinem Fall gebe es eine Entschuldigung der Täter gegenüber ihren Opfern oder eine Entschädigung. Sie berichtete, dass sie während ihrer Nachforschungen vielfach angefeindet und anonym bedroht worden sei; als Folge gab sie noch während der Arbeiten ihren Wohnsitz in Aschau auf und zog ins Allgäu.

Einzigartiger
Archivfund

Mehrere Heimatvereine aus der Nachbarschaft erkundigten sich nach der Veranstaltung nach dem Dachbodenbestand, nirgendwo in den Rathäusern der Region – die allerdings alle erst nach dem Krieg entstanden – gebe es einen vergleichbaren Bestand. Dr. Willer erklärte das Fehlen mit der Vernichtung unmittelbar nach der NS-Zeit sowie nach dem Erreichen der Aufbewahrungsvorschriften für gemeindliche Schriftstücke. Gemeindearchive waren in den 1970er- und 1980er-Jahren noch weitestgehend unbekannt. Vernichtet oder aufbewahrt wurde nach freiem Ermessen und den wenigen Vorschriften. Der Dachbodenfund sei wohl einmalig in der Region und biete der Forschung viele Möglichkeiten, mit Originalen aus der Zeit zu arbeiten. Mehrere Besucher stellten übereinstimmend fest, hier und heute zum ersten Mal von diesen Ereignissen und diesen Personen erfahren zu haben. Zwar sei jeder Einzelne betroffen, aber die Hauptsache für die Familien sei das Überleben der Soldaten im Felde und der Familie zu Hause gewesen. Alles darüber hinaus habe nur am Rande interessiert.

Die Eigentumsverhältnisse in Aschau wurden – soweit möglich – nach dem Krieg wieder hergestellt.

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