Stephanskirchen – „Es wird sichtbar, dass die Verbrechen der NS-Zeit nicht irgendwo stattfanden und irgendwen betrafen, sondern auch hier mitten in unserer Gemeinde, an Orten, an denen wir uns täglich aufhalten.“ Mit diesen Worten von Stephanskirchens Bürgermeister Karl Mair ist der Sinn der „Stolpersteine“ bestens beschrieben.
Den Ermordeten
eine Stimme geben
Die Zahl der in den Konzentrationslagern umgekommenen Menschen ist so monströs, dass sie gar nicht wirklich ins Bewusstsein dringen kann. Sechs Millionen ermordete Juden – all die anderen Verfolgten wie Sinti, Roma, politisch Andersdenkende, Homosexuelle, nicht angepasste Bürger, die in den KZs ihr Leben verloren, noch gar nicht eingerechnet: Die Menschen, die sich hinter dieser Zahl verbergen, werden wegen deren unvorstellbarer Größe zu einer grauen Masse ohne Gesichter. Stolpersteine sollen wenigstens einige von ihnen aus der Anonymität herauslösen.
Von diesen kleinen, in den Boden eingelassenen Steinquadern mit Metallplaketten, eine Gedenkoffensive des Kölner Künstler Gunter Demnig, gibt es mittlerweile über 100000 in 32 Ländern Europas. In Stephanskirchen befinden sich seit vergangenem Sonntag drei davon. Ein Stein für den Antifaschisten Johann Vogl wurde bereits 2018 verlegt, am Schloßberg, wo er einst einen kleinen Kiosk betrieb. Zwei weitere befinden sich nun in der heutigen Siedlung Haidholzen, dort, wo sich einst ein Außenlager des Konzentrationslagers Dachau befand, in dem sich Zwangsarbeiter für die Rüstung aufarbeiteten: Martin Sabozki aus Polen und Kusma Martschenko aus der Ukraine haben, wie viele andere, die Qual nicht überlebt.
Einen großen Verdienst bei dem Versuch, diesen Menschen wieder zu einem Gesicht und zu einer Persönlichkeit zu verhelfen, hat das Stephanskirchener Schulradio, die Simssee Welle. Unter der Leitung ihrer Lehrerin Michaela Hoff machen sich seit 2017 aufeinanderfolgende Schülergenerationen der Otfried-Preußler-Schule an die Recherche zu den Einzelschicksalen. So haben sie auch bei Martin Sabozki und Kusma Martschenko deren Leidensweg durch verschiedene Konzentrationslager rekonstruiert. Möglich wurde dies nicht zuletzt auch durch die Tatsache, dass der Massenmord damals nicht einfach so geschah, sondern bürokratisch bis ins Kleinste durchgeplant war. Wie penibel, wie „ordentlich“ damals Vernichtung verwaltet wurde – das war für die Schüler wohl ein schockierender Erkenntnismoment im Zuge ihrer Bemühungen.
Das Hauptaugenmerk richtet sich bei ihrer Arbeit aber immer darauf, die Menschen wieder zu Wesen aus Fleisch und Blut werden zu lassen. Ein Stilmittel der Schulradioprojekte ist es deshalb, die Umgekommenen in fiktiven Dialogen selbst zu Wort kommen zu lassen, ein Auszug war auch bei der Stolpersteinverlegung zu hören. Diese Gespräche sind keine reine Fiktion, man kann, wie Michaela Hoff sagte, davon ausgehen, dass sich Martin und Kusma begegnet sind, sich wahrscheinlich – wegen der Nähe ihrer beiden Muttersprachen zueinander – auch unterhalten haben.
Den Umgekommenen jener Zeit wieder eine Stimme zu geben, sie damit gewissermaßen lebendig zu machen, ist eine wesentliche Voraussetzung für ein Erinnern, wie Dr. Thomas Nowotny von der Initiative Erinnerungskultur seit langem immer wieder betont. Denn eines ist sicher unbestritten: ein Gedenken an bloße Zahlen, gerade wenn sie jedes Vorstellungsvermögen übersteigen, ist kaum möglich, individuelle Schicksale von Einzelpersonen aber können haften bleiben. Diejenigen, die das nationalsozialistische Mordregime überlebt haben und vom Leidensweg in den KZs Zeugnis ablegen können, werden jedoch immer weniger.
Schüler sind weiter
auf der Suche
Nowotny wie Bürgermeister Mair und Christoph Maier-Gehring, Kulturreferent des Landkreises, bedankten sich ausdrücklich bei Michaela Hoff und ihren Schülern. Die wiederum versicherten: „Die Verlegung der beiden Stolpersteine heute ist kein Abschluss, sondern ein sichtbares Zeichen dafür, dass wir weiter auf der Suche sind.“ Ein wichtiges Versprechen in einer Zeit, in der eine möglichst breite Entschlossenheit zum „Nie wieder“ immer wichtiger zu werden scheint.