Übergriffe auf Personal nehmen zu

von Redaktion

Im Gesundheitswesen kommt es vermehrt zu verbalen und körperlichen Attacken

Wasserburg – „Ich bin erschüttert. Alle Kollegen sind schockiert“, sagt Professor Dr. Jürgen Müller, Chefarzt an der Asklepios Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie in Göttingen. Der 60-Jährige hat seinen Kollegen Dr. Rainer Gerth, der am Montagabend, 8. April, auf dem Gelände des kbo-Inn-Salzach-Klinikums in Wasserburg getötet wurde, flüchtig gekannt. Man trifft sich im Kollegenkreis auf Kongressen, Symposien, Fachveranstaltungen, auch bundesweit. Dass bei der Ausübung des Berufs im schwierigen Umfeld der forensischen Medizin, die sich um psychisch kranke und/oder süchtige Rechtsbrecher kümmert, ein Mediziner durch eine Messerattacke ums Leben kommt, ist „ein extremer Einzelfall“, sagt Müller. „Wir müssen jedoch feststellen, dass verbale und körperliche Übergriffe auf Behandler, Therapeuten und Pflegepersonal zunehmen“, bedauert er.

In allen Bereichen des Gesundheitswesens

Diese Entwicklung zeichne sich zwar in fast allen Bereichen des Gesundheitswesens ab, in dem eng am und mit Menschen gearbeitet werde. Doch in der forensischen Psychiatrie steige die Konfliktbereitschaft besonders intensiv an. In der Regel bleibe es jedoch bei verbalen Aggressionen. Es komme aber auch vermehrt zu körperlichen Attacken wie „schubsen oder schlagen“. Das Personal in der Psychiatrie sei für diese Ausnahmesituationen geschult und trainiert. Es erkenne meistens frühzeitig, wenn eine Situation zu eskalieren drohe. Wer schwer psychisch erkrankt sei, steigere sich manchmal in krankhafte Ablehnung gegenüber Therapeuten, Ärzten und Pflegekräften hinein. Das könne auch in Bezug auf psychiatrische Sachverständige vor Gericht geschehen. Der Behandler, der die Diagnose stelle, werde vom Begutachteten dann nicht als Hilfesteller erkannt. Stattdessen könne es geschehen, dass der Sachverständige in die Krankengeschichte eingewoben werde und sich ein Angeklagter in wahnhafte Vorstellungen hineinsteigere. Dann werde manchmal der Arzt als Hauptschuldiger am persönlichen Schicksal betrachtet. Das könne zu emotionalen Durchbrüchen führen. Doch all dies sei in der Regel gut behandelbar – therapeutisch und medikamentös. In den vergangenen Jahren hat sich die Situation in den forensischen Kliniken nach Angaben von Müller jedoch Richtung Überlastung stark zugespitzt. Viele Häuser seien überbelegt. Räumlichkeiten, die eigentlich für die Therapie zur Verfügung ständen, müssten umgewandelt werden, um alle zugewiesenen Patienten aufnehmen zu können. Der Fachkräftemangel, auch im ärztlichen Bereich, mache zu schaffen. Es werde unter diesen Rahmenbedingungen immer schwieriger, zu deeskalieren.

Mehr Patienten als früher werden laut Müller in die forensische Psychiatrie eingewiesen: nicht nur von den Gerichten, sondern auch aus Heimen oder anderen Einrichtungen. Die Klientel schwer schizophrener Patienten nehme zu. Seit zwei bis drei Jahren würde diese Gruppe den deutlich überwiegenden Schwerpunkt stellen. Es seien Menschen, bei denen die psychische Erkrankung oft chronisch ausgeprägt sei, die schwere Störungsbilder aufweisen würden, Patienten mit Persönlichkeitsstörungen, oft gepaart mit Suchterkrankungen und großen Sozialisierungsproblemen. Also schwer Kranke, die eine große Herausforderung an das Personal in den Kliniken stellen. Auch in Sicherheitsfragen. Doch die räumlichen Bedingungen seien oft nicht ausreichend, die personelle Lage ebenfalls nicht. „Das kann zu brenzligen Situationen führen“, warnt Müller, der die Forensische Psychiatrie im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) vertritt.

Er stellt fest, dass sich das Anzeigeverhalten verändert hat, dass die Bereitschaft, diese Klientel in die forensische Psychiatrie einzuweisen oder Unterbringungsbefehle auszustellen, zunehme. Übervolle Häuser, überlastetes Personal: Das führe bei der Behandlung zu mehr Aggressionen.

Ein Drittel aller 78 deutschen Kliniken für den Maßregelvollzug, die sich 2021 an einer Umfrage der DGPPN beteiligt haben, berichte über eine steigende Anzahl körperlicher Übergriffe durch Patienten.

Die Gesundheitspolitik habe diese Problematik erkannt. Es gebe dringenden Handlungsbedarf: eine bessere Finanzierung, eine Reform des Maßregelrechts, aber auch mehr Prävention, denn viele Straftaten könnten durch früher erkannte und bessere Behandlung von schweren psychischen Erkrankungen verhindert werden, ist der Chefarzt überzeugt.

Mit Patienten langfristig arbeiten

Trotz dieser Gefahren ist die Arbeit in der Forensik nach Überzeugung von Müller eine „schöne Aufgabenstellung“ für einen Mediziner.

Denn sie biete die Chance, mit einem Patienten langfristig zu arbeiten. Auch viele schwere psychische Erkrankungen wie die Schizophrenie seien heute gut behandelbar. „Ein spannendes Arbeitsfeld“ stelle die enge Zusammenarbeit mit den Gerichten dar. „Fest steht auch: Wir psychiatrischen Forensiker können dazu beitragen, dass Patienten nicht wieder straffällig werden, dass sie resozialisiert werden und dass die Gesellschaft sicherer wird.“

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