Oberaudorf – Es gibt famose Missverständnisse zwischen Schweizern und Deutschen. Zum Beispiel, wenn ein Deutscher sein eidgenössisches Gegenüber nicht versteht und dessen Sprache für Schwyzerdütsch hält. Währenddessen ist der Eidgenosse grad stolz auf sein vermeintlich akzentfreies Hochdeutsch.
Missverständnisse gibt es auch sonst. Was den angeblichen Nationalcharakter betrifft, halten Deutsche die Schweizer zum Beispiel für konservativ, überkorrekt und steif, die Schweizer die Deutschen für Oberlehrer und Wirtschaftsflüchtlinge mit Hang zur Anmaßung. Und für ein Hindernis auf dem Weg ins Achtelfinale der EM.
„Das ist ein bisschen eine Hassliebe zwischen den beiden“, sagt Peter Bernhard und setzt unterm Schnauzbart ein breites Grinsen auf. Er kennt das Beste von beidem. Er ist Schweizer. Und er lebt in Bayern. So lange schon, dass man nur noch einen schwachen Schweizer Akzent hört.
Peter Bernhard und seiner Frau gehört das „Bernhard‘s“ in Oberaudorf. 66 Jahre ist der Senior alt, die längere Zeit seines Lebens hat er in Oberaudorf verbracht. 1984 übernahm er dort die „Alpenrose“, seinerzeit ein weithin bekannter Gasthof, in dem zahlreiche Prominente tafelten. 15 Jahre später zog er 150 Meter weiter. Ein Wirt an der Hauptstraße zog sich in den Ruhestand zurück, „meine Frau und ich nutzten die Gelegenheit und machten den nächsten Schritt“.
Seit einem Vierteljahrhundert hat das „Bernhard‘s“ einen festen Platz in der Gastrozone der Region, als Haus mit gehobener Küche und gleichwohl bodenständigem Charakter. Ein Familienbetrieb mit Ausstrahlung, der die Aufmerksamkeit des Guide Michelin erregt hat. Mit Auszeichnung! „Gemütlich in seiner ländlich-traditionellen Art und lockt viele Stammgäste, aber auch Touristen an. Tipp: Probieren Sie Gerichte mit Schweizer Akzent – der Senior ist gebürtiger Graubündner.“ Das steht da zu lesen. Der Hinweis auf Graubünden ist wichtig. Der Kanton ist ein bisschen wie Bayern, nämlich sehr eigen und sehr traditionell. Und es ist so etwas wie eine Schweiz in der Schweiz: gemischt, mit mehreren Sprachen und Idiomen. Ein Bündner ist sozusagen ein Schweizer par excellence. Und der Oberaudorfer Bündner sagt: „Die Schweiz ist halt ein Vielvölkerstaat.“
Vielleicht macht das die Stärke aus. Also, die Stärke der Schweizer „Nati“ ebenso wie des Lokals „Bernhard‘s“. Die Stärken der Schweizer Kicker konnten im bisherigen Turnierverlauf noch nicht ausreichend ausgelotet werden, in Oberaudorf bei „Bernhard‘s“ bietet sich ohnehin ein kulinarischer Test an.
Die Schweizer Küche hat einen sehr guten Ruf, ist in ihrer Qualität „ein Fels in der Brandung“, wie Bernhard sagt. Wie so viele Köche arbeitete er an vielen Stationen. Immer wieder mal an neuer Stelle anzufangen, das gehöre dazu, sagt er – wie das Legionärs-Dasein im Fußball. So bringt er als Koch zusammen, was die Schweizer Küche ausmacht: Vielfalt mit dem Besten aus Frankreich, Italien und der Alpenregion. Die Schweizer Fußballer wiederum spielen überwiegend in England, Frankreich, Italien und Deutschland. Werden sie das Beste aus einigen der besten Ligen Europas auf das Feld bringen können?
Ja, und natürlich sind die Schweizer manchmal eben dennoch konservativ. Wir kochen in der Restaurant-Küche den Schweizer Klassiker schlechthin: Zürcher Geschnetzeltes. Auch Bernhard erfindet dieses Gericht nicht neu, aber er bringt es in dermaßen guter Qualität auf den Tisch, dass man auf Experimente ohnehin verzichten mag.
Das Zürcher Nationalgericht ist an sich einfach, aber es kommt aufs Timing an. Und auf Details. Nehmen wir als Beispiel die Rösti. Sie sind einfach zu bereiten, die Kartoffeln sind schnell gehobelt, und wer die Messerspitze Muskatnuss nicht vergisst, hat schon viel gewonnen. Bernhard nimmt vorgekochte Kartoffeln für Rösti, die viel Sauce aufnehmen sollen (wie bei seinem Geschnetzelten). Und rohe Kartoffeln, wenn sie zum geräucherten Lachs gereicht werden. Er wendet die Rösti-Fladen, indem er sie mit Schwung aus der Pfanne durch die Luft katapultiert. Die Leichtigkeit der Bewegung erinnert an die elegante Beiläufigkeit, mit der der Schweizer Spielmacher Granit Xhaka seine Pässe schlägt. All das zusammen macht aus Rösti mehr als eine dröge Sättigungsbeilage.
Solcherart gesättigt, will der Besucher das Gespräch nochmals auf den Fußball bringen. Viel möchte der Wirt zu den Chancen der Nationalmannschaft nicht sagen, besonders engagiert hat er Qualifikation und Testspiele nicht verfolgt. Da macht er eher dem Klischee vom zurückhaltenden Schweizer die Ehre. Und natürlich arbeitet ein Wirt und Koch meist auch dann, wenn die Kicker unter Flutlicht dem Ball nachjagen.
Ja, der Sport. „Ich freue mich narrisch, wenn ein Schweizer Skifahrer gewinnt“, sagt er dann. Und im Fußball? „Gegen die Dütschen?“, fragt er, zuckt mit den Schultern. Dann muss er lachen. „Eine Sache wäre das natürlich schon, oder?“ Am Sonntag wird gespielt. Kleiner Bruder gegen den Großen. Es wird nicht zum Äußersten kommen, davon darf man ausgehen. Weil die Deutschen nette Gastgeber und die Schweizer so höflich sind. Und notorisch neutral. Oder weil es nicht mehr um viel geht.