Raubling – Die Kirchdorfer sind traumatisiert. Zum vierten Mal hat die Sturzflut Grundstücke entlang der Kufsteiner Straße, in den Blumenstraßen, an der Neubeurer Straße, in Thalreit und Am Rohret unter Wasser gesetzt. Erst 2005, dann 2013. Wer 2020 dachte, schlimmer könne es nicht mehr kommen, weiß seit dem 3. Juni 2024, dass es schlimmer kommen kann. Diesmal stand das Wasser 30 Zentimeter höher auf ihren Grundstücken, in ihren Kellern und teilweise auch in den Erdgeschossen. Wie es beim nächsten Oberflächen- und Flusshochwasser sein wird, wollen sie sich gar nicht vorstellen. Schon jetzt weckt jeder Starkregen die Angst und die bange Frage, ob es schon wieder losgeht, und ob sie es sich überhaupt noch leisten können, in Kirchdorf wohnen zu bleiben, wenn sie alle paar Jahre ihre Häuser sanieren müssen.
Bürger ergreifen
die Initiative
„Nicht noch einmal“, haben sich die Kirchdorfer vorgenommen. Sie wollen sich ihrem Schicksal nicht ergeben. Sie wollen aus dem Überschwemmungsgebiet, als das der Ort seit 2020 gilt, auch nicht wegziehen. Also stellen sie sich der Herausforderung und ergreifen die Eigeninitiative. Namen, sagen sie, seien dabei nicht wichtig. Es gebe so viele Einzelschicksale in ihrem Ort, dass sie als Kirchdorfer Gemeinschaft die Stimme erheben, um sich Gehör zu verschaffen und mit ihren Sorgen ernst genommen zu werden: von ihrem Bürgermeister und der Gemeindeverwaltung. „Wir haben viele Fragen. Darauf möchten wir Antworten.“
Jetzt fand ein Treffen im Pfarrheim Kirchdorf statt. Ziel war es, ihre Fragen zu sammeln, um sie dann der Gemeinde vorzulegen. Etwa 100 Betroffene waren gekommen. Alle eint die Überzeugung: „Wir können uns nicht allein helfen.“ Nicht alle sind elementarversichert. Diejenigen, die eine Elementarversicherung haben, sind von der Sorge geplagt, wann ihnen die Versicherung kündigt, wenn sie alle paar Jahre hohe Schäden zahlen muss.
Viele haben
privat vorgesorgt
Zudem haben sie nach dem verheerenden Hochwasser von 2020 privat vorgesorgt und viel Geld investiert: wasserdichte Kellerfenster eingebaut, Pumpen gekauft. Doch gereicht hat es auch diesmal nicht. Die Keller liefen nicht ganz so schnell voll, aber sie liefen voll. Und wohin sollen sie das Wasser aus ihren Kellern pumpen, wenn kein Strom da ist oder sie von Wasser umgeben sind?
Auch das Gelände ihrer eigenen Grundstücke so zu modellieren, dass eine Flut künftig an ihnen vorbeiläuft, ist keine Option. Denn das ist nicht erlaubt, da sich dadurch die Überschwemmungssituation anderer Grundstücke verschlechtern könnte.
Aus den Erfahrungen der vergangenen 19 Jahre wissen die Kirchdorfer: Der Durchlass durch die Brücke an der Kreisstraße (Neubeurer Straße) ist zu klein. In Kirchdorf vereinigen sich Ammer- und Litzldorfer Bach. Schon beim Hochwasser 2020 wurde die besondere hydrologische Situation der Gemeinde Raubling klar. Doch seitdem habe sich nichts getan, kritisieren die Kirchdorfer: Einer schiebe dem anderen den Schwarzen Peter zu, sagen sie. Die Gemeinde ist für die Gewässer dritter Ordnung zuständig. Der Landkreis trägt die Baulast der Kreisstraße. Also müsste er sich eigentlich um einen größeren Durchlass kümmern. Doch auch 2024 staute sich das Wasser wieder vor dem Durchlass und breitete sich auf Wiesen und Grundstücken aus.
Hinzu kommt, dass bei Starkregen auch das Wasser aus der Nicklheimer Filze in den Ort fließt. Noch vor vier Jahren wurde vom Landratsamt auf OVB-Anfrage behauptet, die Renaturierung der Moore – ein europäisches Naturschutzprojekt – habe „stärkere Schäden verhindert als verursacht, da sie langfristig für eine erhöhte Wasserspeicherkapazität sorge und damit eine hochwasserrelevante Retentionsfunktion habe“. Doch im Katastrophenfall-Protokoll des Landkreises vom 4. Juni 2024 wurde unmissverständlich vermerkt: „In Raubling war das Wasser aus der Nicklheimer Filze in den Ort geflossen.“ Die Kirchdorfer haben es am eigenen Leib gespürt. „Der Schwamm ist voll, läuft bei Starkregen sofort über. In unseren Ort. Hier muss sich endlich was tun.“
Neben der hydrologischen sei sicher auch die politische Situation schwierig, vermuten die Kirchdorfer, da private Kraftwerksbetreiber, Gemeinde, Landkreis, Freistaat, Bund und EU im Boot seien. Doch ihre Geduld ist am Ende. Man schiebe sich die Verantwortung zu, drehe sich im Kreise und nichts passiere. „Nicht mehr auf unserem Rücken: Es geht um unser Leben und unsere Zukunft.“
Einwohner fordern
Informationen
Deshalb fordern sie Antworten: Warum ist das Hochwasserschutzkonzept für die Gemeinde Raubling noch immer nicht fertig? Was ist überhaupt geplant? Warum wurden die Kirchdorfer nicht nach ihren konkreten Hochwasser-Erfahrungen gefragt? Gibt es einen Evakuierungsplan für die vom Oberflächen- und Flusshochwasser bedrohten Gebiete?
Warum wurde am Tag der Katastrophe erst gegen 17 Uhr ein Generator mit einer entsprechenden Pumpe angeliefert, nachdem der ganze Ort schon abgesoffen war? Könnte man in Kirchdorf ein eigenes Lager für Sand und Sandsäcke errichten, damit sich die Menschen schneller helfen und besser schützen können? Warum gibt es keine Hochleistungspumpe für den Ort? Oder warum werden die Bäche nicht besser gepflegt und vom Wildwuchs befreit?
Gerüchte aus
dem Weg geräumt
Eine Frage betrifft auch die Arzerwiese: Warum wird sie nicht als Überflutungsgebiet oder für den Bau eines Polderbeckens genutzt, wollten die Kirchdorfer wissen. Ein Anwohner brachte vom „Flurfunk“ die Information mit, dass sich der Bauer dagegen wehre.
Doch zum Glück war einer der Landwirte beim Anwohnertreffen selbst dabei und konnte aufklären: „Meine Wiese stand drei Tage unter Wasser. Dafür erhalte ich keine Entschädigung, auch nicht dafür, dass sie mit Öl kontaminiert wurde. Wenn mein Land für ein Polderbecken gebraucht wird, gebe ich es gern her, ehe Wohnsiedlungen absaufen. Doch bis heute hat mich noch niemand danach gefragt.“ So diente das Treffen der Kirchdorfer auch dazu, Unwahrheiten und Gerüchte aus dem Weg zu räumen und die dörfliche Gemeinschaft zu stärken.
Die Kirchdorfer wollen sich künftig regelmäßig treffen, um den Hochwasserschutz ihres Ortes gemeinsam voranzutreiben. Nach dem Treffen übergeben sie Bürgermeister Olaf Kalsperger ihren offenen Brief mit ihren Fragen. Darunter auch diese: Wann findet eine Informationsveranstaltung für die Hochwasseropfer der Gemeinde Raubling statt?