Aschau – Dr. Maria Anna Willer hat viele Jahre in Aschau gelebt und gearbeitet. In Gesprächen mit Zeitzeugen und Recherchen in historischen Archiven hat die Kulturwissenschaftlerin die NS-Geschichte Aschaus erforscht. Wie die Namen der Opfer nach Aschau zurückkehren sollen, warum die Täter fast 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges endlich beim Namen genannt werden müssen, und wie die Wissenschaft den einstigen „Traditionsgau“ weiter beleuchten muss: Darüber sprach sie mit dem OVB.
Sie sind vor Jahren aus Aschau in die Anonymität geflüchtet, weil sie aufgrund der Recherchen für ihre Doktorarbeit „Nationalsozialismus auf dem Dorf“ am Beispiel von Aschau Drohbriefe erhalten haben. Um ihre Arbeit vorzustellen, sind sie zurückgekehrt. Wie hat sich das angefühlt?
Wie eine Versöhnung mit Aschau. Ich war sehr überrascht, auf welch große, positive Resonanz die Präsentation meiner Doktorarbeit gestoßen ist. Ich freue mich, dass ich damit den Anstoß für weitere Forschungen geben konnte. So findet im Herbst auf Initiative des Heimat- und Geschichtsvereins Aschau ein grenzüberschreitendes Symposium „NS-Geschichte in Tirol und ‚Traditionsgau‘– Archäologie und Zeitgeschichtsforschung. Update 2.0“ statt, bei dem Archäologen und Historiker aus Bayern und Tirol die neuesten Forschungsergebnisse zur NS-Zeit in Tirol und Oberbayern vorstellen.
Über die Zeit der
NS-Herrschaft sollte fast 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges doch alles Wesentliche bekannt sein. Welche neuen Erkenntnisse kann es jetzt noch geben?
Ein Problem ist, dass die Geschichte des sogenannten „Traditionsgau München-Oberbayern“ als Keimzelle des Nationalsozialismus bis heute ein unerforschtes Terrain ist. Warum das 79 Jahre lang möglich war, kann ich nicht beantworten. Es gibt nichts Vergleichbares. Ich habe mich in meiner Doktorarbeit nur mit einem Dorf beschäftigt und festgestellt, dass die regionale NS-Geschichte ein Fass ohne Boden ist. Es gibt hunderte Dörfer wie Aschau, deren Geschichte beleuchtet werden muss – darunter beispielsweise Schleching, Bernau oder Bad Endorf mit Schloss Hartmannsberg. Es wird also sehr viele unerwartete neue Erkenntnisse geben – so wie in meiner Doktorarbeit auch. Dass das Blockwartsystem bis auf Dorfebene und bis in den kleinsten Weiler funktioniert hat, war vor meinen Forschungen nicht bekannt. Es ist erschreckend, zu sehen, wie gut die Überwachung der Menschen auf dem Land organisiert war. Wenn es nun eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Oberbayern und Tirol geben wird, kann dies zum Auftakt für die weitere Erforschung der NS-Geschichte werden.
Werden Sie die Forschungen zum Traditionsgau übernehmen?
Im Moment arbeite ich an einer Ausstellung im Ostallgäu zur Zwangsarbeit in der NS-Rüstungsindustrie. Aber die Analyse des „Traditionsgaus“ würde mich sehr interessieren, zumal ich weiß, wie umfassend der Bestand an historischen Unterlagen in staatlichen, kirchlichen und privaten Archiven ist, der noch nicht ausgewertet wurde. Man könnte strukturiert am Material arbeiten, um neue Aussagen zu treffen. Für die Erforschung des damaligen Traditionsgaus München-Oberbayern wäre es allerdings von wesentlicher Bedeutung, in Kooperation mit dem Institut für Zeitgeschichte, im öffentlichen Auftrag und mit europäischen Fördermitteln zu arbeiten, um die Unabhängigkeit der Forschung zu gewährleisten.
Durch Ihre Forschungen haben Sie den Grundstein dafür gelegt, dass die Namen der Opfer des Naziregimes nach Aschau zurückkehren. Wie viele waren es?
Bei meinen Recherchen habe ich etwa 50 konkrete Namen und Leidenswege von Verfolgten des Naziregimes in Aschau gefunden. Ich fände es gut, wenn die Rosenheimer Stolperstein-Initiative auch in Aschau Stolpersteine zu Opfern des Nazi-Terrors verlegen würde. Bisher stehen die Namen zwar im Buch, doch nicht jeder liest es. Eine Gedenkkultur an die Opfer der NS-Diktatur steht noch ganz am Anfang. Und die von mir Recherchierten sind längst nicht alle. Wir müssen auch die Opfer der Zwangsarbeit in unser Gedächtnis zurückholen.
Gehört es nicht auch zur Erinnerungskultur, die Täter öffentlich an den Pranger zu stellen?
Selbstverständlich. Aber auch in der Täterforschung gibt es einen riesigen Nachholbedarf, und in vielen Fällen muss zudem eine Geschichtsverklärung bereinigt werden. Beispielsweise ist es unfassbar, dass die Täter-Opfer-Umkehr zugelassen wurde und zum Beispiel Franz Halder, einer der einflussreichsten militärischen Funktionäre des NS-Regimes, einer gerechten Strafe entgehen konnte. Er hat als Generalstabschef des deutschen Heeres die Feldzüge gegen Polen, Frankreich und die Sowjetunion geplant und trägt damit die Mitverantwortung für Millionen Tote. Auch wenn er im späteren Kriegsverlauf bei Hitler in Ungnade fiel, hätte er sich für die Kriegsverbrechen der deutschen Streitkräfte verantworten müssen. Diese machte er 1941 durch seine Mitwirkung am Erlass über die Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit und am Kommissarsbefehl erst möglich. Damit wurde die Genfer Konvention ausgehebelt und den deutschen Soldaten das willkürliche Morden von Offizieren, Soldaten und der Zivilbevölkerung gestattet. Doch für die Historical Division der US-Army war Halder nach Ende des Zweiten Weltkrieges offenbar ein wichtiger Informant. Und so gelang es ihm, sich selbst und die Wehrmacht als Saubermänner darzustellen und ihre Gräueltaten zu vertuschen. Es ist unfassbar, dass dieser Kriegsverbrecher sogar noch mit dem Meritorious Civilian Service Award ausgezeichnet wurde, der zweithöchsten zivilen Auszeichnung der US-Army.
Sind Sie bei Ihren Recherchen über die NS-Zeit im „Traditionsgau München-Oberbayern“ auf weitere Täter gestoßen?
In dieser Region haben sich zwischen 1933 und 1945 sehr viele hohe NS-Funktionäre niedergelassen, weil sie die Nähe zu Hitlers zweitem Regierungssitz am Obersalzberg in Berchtesgaden und zur „Hauptstadt der NS-Bewegung“, also der Zentrale in München bot. Band 18 der Buchreihe „Täter, Helfer, Trittbrettfahrer“, das im Herbst im Kugelbergverlag erscheint, beschäftigt sich mit kleineren und größeren Nazi-Funktionären aus dem südlichen Oberbayern. Das Buch werden wir auch im Landkreis Rosenheim mit einer Lesung präsentieren. Ich habe dazu die quellengestützten Biografien von drei Tätern beigetragen: Franz Xaver Hayler aus Aschau, frühes Mitglied von NSDAP und SS, Staatssekretär und zuletzt Stellvertreter von Wirtschaftsminister Walter Funk. Alexander Freiherr von Wangenheim, Mitglied des Reichstags, SA-Standartenführer und Leiter der Reichsbauernhochschule, der bei Kriegsbeginn von Berlin nach Sachrang zog und zuletzt in Achenmühle lebte. Josef Eichberger aus Bad Endorf machte Karriere im Reichssicherheitshauptamt in Berlin, wo er mit der rassehygienischen Forschungsstelle zusammenarbeitete, um alle deutschen Sinti und Roma für die Deportation ins Vernichtungslager Auschwitz erkennungsdienstlich zu erfassen. Er wurde daher auch als „Adolf Eichmann der Sinti und Roma“ bekannt.
Interview: Kathrin Gerlach