Altlandkreis Wasserburg/ Traunstein – „Wissen Sie, wo Sie sind?“, die Frage von Volker Ziegler, Vorsitzender Richter der fünften Strafkammer, will nicht so wirklich in den Schwurgerichtssaal B 33 des Landgerichts Traunstein passen. In diesem Raum könnte auch Richterin Barbara Salesch von Sat 1 gefilmt werden, so klischeehaft sieht er aus. Holzvertäfelung, rechts die Staatsanwaltschaft, links die Anklagebank, vorne ein langer Tisch, hinter der sich Richter, Schöffen und Protokollantin versammeln.
Doch trotz aller Klischees, die Antwort des Beschuldigten B. ist dürftig. „In einem großen Saal“, sagt der Senior nach langem Zögern mit unsicherer Stimme. Auf den Hinweis von Ziegler, dass es sich um einen Gerichtssaal handle, reagiert B. nicht. Er scheint es nicht zu verstehen.
Der Vorwurf:
Totschlag
Denn B. ist 93 Jahre alt und schwer an Demenz erkrankt. Hinter der großen Anklagebank wirkt der alte Herr etwas verloren, scheint nicht so recht zu wissen, was diese Veranstaltung hier soll und was er damit zu tun hat.
Sieht man B. so an, ist es schwer vorstellbar, dass er einer Fliege etwas zuleide tun könnte. Und doch ist der Vorwurf, der im Raum steht, schwerwiegend.
Es geht um Totschlag. Denn Staatsanwalt Christian Merkel ist überzeugt, dass B. Ende Januar einen neun Jahre jüngeren Mann in einem Seniorenheim im Altlandkreis Wasserburg umgebracht habe. Tatort soll das gemeinsame Zimmer der beiden auf einer geschlossenen Station für Demenzkranke gewesen sein.
Laut Merkel war der Mitbewohner K., ein 84 Jahre alter Mann, kürzlich bei B. ins Zimmer gezogen. Das habe dem 93-Jährigen wohl nicht gepasst.
„Bereits am Abend hat er den Mann auf den Flur hinausgeschoben“, so der Staatsanwalt. Später sei es dann zu einem Streit zwischen den beiden Männern gekommen. „In dessen Verlauf attackierte der Beschuldigte den im Bett liegenden K. körperlich, insbesondere im Kopfbereich.“
K. sei anschließend trotz eingeleiteter Reanimation noch vor Ort an den erlittenen Verletzungen in Folge einer „oronasalen Okklusion“, also dem Verschluss von Nasen- und Mundöffnungen, durch Ersticken oder durch ein akutes stressbedingtes Herzkreislaufversagen verstorben.
Es ist eine mühsame Verhandlung am gestrigen Montagvormittag vor dem Landgericht Traunstein – mit einem Beschuldigten, der sich nicht an den Tathergang erinnert.
Die Frage von Richter Ziegler, ob ihm der Name des Opfers bekannt vorkomme, verneint B. Auf Fotos des gemeinsamen Zimmers und des Seniorenheims reagiert er nicht.
Wie soll ein Gericht mit einem solchen Tatverdächtigen umgehen? Das scheint eine der zentralen Fragen an diesem Tag zu sein. Klar ist, B. gilt als schuldunfähig. Eine Haftstrafe ist ausgeschlossen, vielmehr geht es um die Frage, ob er aufgrund seiner Erkrankung eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt und deshalb forensisch untergebracht werden muss. Aber, wie in jeder Verhandlung, geht es auch um die Frage: Wie konnte es zu der Tat kommen und hat sich B. überhaupt etwas zuschulden kommen lassen?
Direkte Zeugen des Vorfalls gibt es jedenfalls nicht. Zwei Pflegerinnen und die Pflegedienstleiterin des Seniorenheims werden an diesem Tag vernommen. Keine von ihnen hat die Tat beobachtet. „Ich war noch gegen sieben Uhr bei den beiden im Zimmer“, sagt die Pflegekraft aus, die an diesem Abend auf der Station Dienst hatte. Es sei alles friedlich gewesen.
Der später Verstorbene habe geschlafen. B. selbst sei am Bettrand gesessen, sie habe ihm noch Medikamente verabreicht. Er habe sich gefreut, dass er „heim“ dürfe, denn am nächsten Tag hätte B. umziehen sollen, auf Wunsch seines Betreuers, der ihn näher in die Heimat Richtung Österreich holen wollte.
Nur deshalb, also wegen des baldigen Umzugs, sei K. überhaupt in das Zimmer eingezogen. Gegenüber der Gutachterin, Dr. Susanne Lausch, hatte B. später angegeben, dass der Mann sich „breitgemacht“ und ihn habe „raus haben wollen“.
Der Pflegerin fällt diese Befürchtung an jenem Abend aber nicht auf. Zwar habe der Beschuldigte das spätere Opfer zwischenzeitlich aus dem Zimmer geschoben, danach habe es aber keine Auffälligkeiten gegeben.
„Das waren beide sehr nette Bewohner, ich dachte, es passt“, sagt die Pflegerin etwas stockend. Es ist ihr deutlich anzumerken: Die Tat geht ihr nahe. Das Opfer habe sie bereits mehrere Jahre gekannt, er habe auch bei anfallenden Arbeiten im Seniorenheim geholfen. Sie habe sich immer gerne mit ihm unterhalten. Auch die Pflegedienstleiterin spricht bei beiden von „unauffälligen“ Bewohnern. Bis an jenem verhängnisvollen Tag schließlich eine Stunde nach dem letzten Kontrollgang B. mit ausgestreckten, verwundeten Armen zur Pflegerin läuft und sie auf einen Notfall im Zimmer aufmerksam macht.
„Als ich ankam, lag K. bereits leblos auf dem Boden. Er hatte eine Wunde am Kinn, sein Gesicht war geschwollen“, berichtet sie. Der Tatverdächtige habe ihr erzählt, dass er K. „gebissen“ habe.
Einer herbeigerufenen Pflegerin fällt das viele Blut im Gesicht auf. Sie setzt einen Notruf ab, gibt an, dass es zu einem Streit zwischen zwei Bewohnern gekommen sei, obwohl sie nun vor dem Gericht zugibt, dass sie es „eigentlich nicht wusste.“
Zu zweit versuchen sie K. zu reanimieren, allerdings ohne Erfolg. K. verstirbt.
Angeklagter
bleibt ruhig
Auf seiner Anklagebank bleibt der Beschuldigte B. während der gesamten Schilderung ruhig. Zwischenzeitlich scheint es, als wäre er eingeschlafen. Wahrscheinlich versteht er gar nicht, was seine ehemalige Pflegerin dort erzählt. In jedem Fall versteht er nicht, dass in diesem Gerichtssaal gerade darüber entschieden wird, wo er seinen Lebensabend verbringen soll.
Auf Fragen reagiert B. kaum, nur das Bild des Opfers kommentiert der 93-Jährige mit: „Der kommt mir bekannt vor. Aber wer das ist, weiß ich nicht.“ Am heutigen Dienstag wird die Verhandlung fortgesetzt.