„Will wissen, ob die Fische küssen“

von Redaktion

70 Menschen kamen zur Demenz-Früherkennung nach Aschau – auch eine OVB-Reporterin

Aschau – „Ich möchte wissen, ob die Fische küssen“, sagt eine Rosenheimerin. Sie ist mit ihrer Freundin extra nach Aschau gekommen, um am Demenz-Screening teilzunehmen. Beide sind 78, also im besten Alter für einen Test der Gedächtnisleistung. Sie wollen wissen, wie es um ihre Köpfe steht. Ebenso wie eine 83-jährige Aschauerin: „Es ist gut, dass sich unsere Gemeinde um ihre Bürger kümmert, ihnen im Alter Aufmerksamkeit schenkt und die Probleme des Alterns aus der Tabuzone holt.“

Großes
Interesse

70 Anmeldungen hat der Ökumenische Sozialdienst Priental für den ersten Screening-Tag in der Region. „Wir sind ausgebucht, haben sogar eine Warteliste“, sagt Ilona Hörath vom Digitalen Demenzregister (digiDem) Bayern. Das Forschungsprojekt „digiDem“ von Uni und Uniklinik Erlangen sowie Metropolregion Nürnberg widmet sich der Versorgung von Menschen mit Gedächtnisbeeinträchtigungen und deren pflegenden Angehörigen.

„Forschung ist auf Datenspenden angewiesen“, erklärt Hörath: „Die kommen als konkrete Vorschläge für eine bessere Pflege, Versorgung und Lebenssituation in die Region zurück.“ Im Verein „Ökumenischen Sozialdienst Priental“ haben die Wissenschaftler Forschungspartner gefunden. „Wir begleiten ältere Menschen sehr lange, sind präsent, kümmern uns und sehen ihre Krankheitsverläufe“, erklärt Vorsitzender Elmar Stegmeier.

Die Datenerhebung ist nur eine Seite des Früherkennungsprogramms. Die andere und für Betroffene weitaus wichtigere ist die Gewissheit. „Ich will wissen, was es mit meiner Vergesslichkeit auf sich hat“, sagt die 83-jährige Aschauerin. Und genau das ist an diesem Tag die Frage, die sich alle Teilnehmer stellen: Wie viel Vergesslichkeit ist normal? Und woran erkennt man, ob unter der Oberfläche eine Demenz lauert?

„Dann kommen sie doch und machen den MoCa-Test mal selbst“, lädt mich Jana Rühl, wissenschaftliche Mitarbeiterin im digiDem ein. Plötzlich rutsche ich aus der Rolle der distanzierten Beobachterin in die einer 58-jährigen Privatperson und mir wird klar, dass ich gar nicht so weit von dem Alter entfernt bin, in dem ein Demenz-Screening ratsam ist. Ein mulmiges Gefühl macht sich breit. Eigentlich will ich doch gar nicht wissen, ob die Fische küssen. Doch wer nicht wagt, bekommt keine Gewissheit. Los geht‘s also: Gleich beim ersten Test verliere ich Punkte: Malen nach Zahlen und Buchstaben kenne ich ja noch, aber diesmal habe ich nicht lange genug nachgedacht. „Das kann schon die Aufregung sein“, tröstet mich Jana Rühl bei der Auswertung. Dafür habe ich die geometrische Figur, die Uhr mit Ziffernblatt und Zeigern gut hinbekommen, Tiere erkannt, Buchstaben gehört, mir (ohne mitzuschreiben) vier von fünf Wörtern merken können und im Kopfrechnen bestanden. Zum Glück dauerte auch mein Blackout nur Sekunden, und mir fielen dann doch noch ein paar Wörter mit F ein.

„Mit diesem Test prüfen wir unter anderem, ob die geistigen Prozesse funktionieren, die das Verhalten, die Aufmerksamkeit und die Gefühle gezielt steuern“, versucht die Wissenschaftlerin mit einfachen Worten komplexe Zusammenhänge zu erklären. Visuelle Wahrnehmung, zeitliche und räumliche Orientierung, Aufmerksamkeit, räumliches Denken, die Fähigkeit zur Abstraktion, Kopfrechnen – all das wird in dem etwa 15-minütigen Test abgerufen. Wie es um Gedächtnisleistung und Raumwahrnehmung steht, zeigt der Uhrentest. „Er erlaubt erste Rückschlüsse auf demenzielle Veränderungen“, erklärt Rühl. Ebenso wie der Fünf-Wörter-Gedächtnistest, bei dem sich zeigt, ob man sich kürzlich erlernte Informationen einprägen kann. Und so werde ich „Gesicht, Samt, Kirche, Tulpe, Rot“, heute vermutlich noch im Schlaf murmeln. „Uff! Geschafft, 28 von 30 Punkten, bestanden“, denke ich erleichtert. Doch um Bestehen oder Nicht-Bestehen, sich gut oder schlecht fühlen, geht es beim Demenz-Screening nicht. „Je früher kognitive Einschränkungen bei einem Menschen erkannt werden, desto besser kann man ihm helfen“, betont Elmar Stegmeier. Zwar hofft jeder, dass es ihn nicht trifft. Und doch erkranken viele ältere Menschen an einer Demenz.

Das Landesamt für Gesundheit geht davon aus, dass in Bayern 270000 über 65-Jährige mit Demenz leben. Im Jahr 2030 werden es 300000, bis 2040 etwa 380000 Betroffene sein. Und allein im „überalterten“ Priental von Sachrang bis Wildenwart muss mit 150 neuen Erkrankungen pro Jahr gerechnet werden.

„Nur fünf der 29 Gedächtnisambulanzen in Bayern befinden sich im ländlichen Raum. Das bedeutet, dass etwa 27500 Menschen weite Wege von mindestens 40 Minuten auf sich nehmen müssen, um eine Demenzvorsorge zu erhalten“, erläutert Hörath. Gerade deshalb sei es wichtig, dass Forschungspartner auf dem Land im Projekt mitwirken: „Der ökumenische Sozialdienst ist Ihr Ankerpunkt, Ihr Kompetenzzentrum in der Region.“

„Wir wollen ein Netzwerk für Angehörige, Nachbarn, Freunde, aber auch Mitarbeiter von öffentlichen Einrichtungen wie Verwaltungen, Banken oder Supermärkten schaffen, um all jene zu erreichen, die sich Sorgen um Menschen mit demenziellen Erkrankungen machen“, so Elmar Stegmeier. Wie wichtig eine sorgende Gemeinschaft ist, hat Altbürgermeister Werner Weyerer im Bekanntenkreis erlebt: „Es ist sehr bedrückend, wenn man erlebt, wie ein Mensch seine Persönlichkeit verliert und sich in eine dauerhafte Abwesenheit verabschiedet.“

Liste mit

Anlaufstellen

Die Teilnehmer des ersten Demenz-Screenings in der Region sind gut gerüstet für die Zukunft. Sie erhielten – unabhängig von ihrer Punktezahl im Test – eine Infobroschüre über Demenz und eine Liste mit wichtigen Anlaufstellen in der Region: Dazu gehören die Gedächtnissprechstunde in Agatharied, das Alzheimer Therapiezentrum in Bad Aibling oder das Neurozentrum in Prien. Und so hat der Ökumenische Sozialdienst Prien für die ersten 70 Menschen schon ein kleines Netzwerk geknüpft.

Weitere Demenz-Screenings sind geplant. Nähere Infos dazu erhalten Interessenten bei bei Anna Jell-Hochwarter vom Ökumenischen Sozialdienst Priental unter der 01 76/84 10 73 66 oder per E-Mail an a.jell@sozialdienst-aschau.de.

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