„Dieses Schweigen ist symptomatisch“

von Redaktion

Welche Rolle spielte der Chiemgau während der NS-Zeit? Wie gut war die NSDAP in Dörfern organisiert? Regionalgeschichtsforscherin Dr. Maria Anna Willer klärt in Aschau auf. Die Gemeinde Aschau geht mit dieser Veranstaltung auch 80 Jahre später ihrer Vergangenheit auf den Grund.

Aschau – Propaganda, Verfolgung und Ausgrenzung waren auch im Chiemgau präsent. In den Dorfchroniken findet man darüber jedoch oft nicht viel, und im Ort wird nur wenig darüber gesprochen. „Dieses Schweigen ist symptomatisch für unsere Gegend“, sagt Dr. Maria Anna Willer. Sie ist Regionalgeschichtsforscherin und hat ein Buch zum Thema Nationalsozialismus auf dem Dorf geschrieben, das auf der Historie der Gemeinde Aschau basiert.

70 Interessierte
in der Prientalhalle

Während draußen der Regen gegen die Fenster prasselt, spricht sie im Saal „Geigelstein“ in der Prientalhalle vor etwa 70 Interessierten über ihr Werk. Der örtliche Heimat- und Geschichtsverein, der Heimatkunde- und Museumsverein Wattens-Volders aus Tirol sowie die Inntal Euregio haben zum Workshop „Erinnerungsarbeit zur Geschichte des Nationalsozialismus im Chiemgau und in Tirol“ eingeladen. Neben Dr. Willer sprechen auch Philipp Lehar vom Heimatkunde- und Museumsverein Wattens-Volders sowie weitere Historiker, Archäologen und Fachleute.

Aschau liegt direkt zwischen dem Obersalzberg und München. Bereits 1932, noch vor der Machtergreifung der Nazis, wurde in Niederaschau eine NSDAP-Ortsgruppe gegründet. Nach der Machtübernahme dauerte es nicht lange, bis die Partei ihre Strukturen im Dorf durchsetzen konnte. Dr. Willer berichtet von einem jüdischen Rechtsanwalt, der im März 1933 zum Ehrenbürger von Aschau ernannt wurde, nur um zwei Wochen später, auf Drängen zweier Parteimitglieder, diesen Titel wieder zu verlieren.

Sie erzählt von einem Sinto, der zur Zwangsarbeit nach Aschau geschickt wurde, sowie von einem jüdischen Holzmakler, der aus seiner Wohnung geworfen wurde und mit dem niemand mehr Handel treiben wollte. Insgesamt konnte Dr. Willer durch ihre Arbeit 50 Opfer und Verfolgte in der Gemeinde identifizieren: sogenannte Vollzigeuner oder Asoziale, Juden, politisch oder aufgrund ihres Glaubens Verfolgte sowie körperlich oder psychisch beeinträchtigte Menschen. „Es war erstaunlich, dass in einem Ort wie Aschau fast alle anerkannten Verfolgtengruppen zu finden waren“, sagt Willer.

Auch Philipp Lehar hat in Wattens ähnliche Erkenntnisse gewonnen. Er berichtet von einem Priester aus dem Ort, der sich gegen Hitler und den Nationalsozialismus stellte und Nächstenliebe predigte. Dafür wurde er 1943 hingerichtet.

In beiden Orten etablierte die Partei das Blockwartsystem. „Niederaschau wurde beispielsweise in sechs Blöcke eingeteilt“, erklärt Willer. „Und jeder dieser Blöcke erhielt einen Blockwart.“ Diese Blockwarte waren für die Verbreitung von Propaganda, aber auch für die Bespitzelung der Dorfbewohner verantwortlich. „Auf dem Dorf ist das natürlich ungeheuer effektiv, hier kennt jeder jeden.“

Überwachung und Verfolgung waren ab diesem Zeitpunkt allgegenwärtig. In den Vorträgen wurde nicht nur die Machtausdehnung der Partei im Dorf thematisiert, sondern auch, wie gemeinschaftliche Erinnerungsarbeit gelingen kann. „Für echte Erinnerungsarbeit braucht es uns alle“, betont Lehar. Deshalb sollen auch Jugendliche mit dem Thema konfrontiert werden. Michaela Hoff von der Otfried-Preußler-Schule in Stephanskirchen zeigt, wie das funktionieren kann.

Regionalität macht
Geschichte erfahrbar

Mit ihren Schülern hat Hoff Hörspiele zum Thema Stolpersteine und über das KZ-Außenlager in Haidholzen erstellt. Die Kinder erarbeiteten sich die Themen durch eigene Nachforschungen, erklärt Hoff. Sie berichtet, dass der regionale Bezug die Vergangenheit für die Kinder viel greifbarer gemacht hat. Die Hörspiele wurden anschließend beim Schulradio „Simssee Welle“ veröffentlicht und in der ganzen Schule ausgestrahlt.

Projekte wie diese sind wichtige Bausteine der Erinnerungsarbeit. „Die Opfer von damals, die heute nicht mehr sprechen können, brauchen eine Stimme“, sagt Willer. Die Veranstalter betonen, dass Erinnerungskultur nicht mit einer einmaligen Veranstaltung geschaffen werden kann. Deshalb sind weitere Veranstaltungen bereits in Planung.

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