Schnaitsee – 33 Jahre ist es nun her, dass Gabriele Gründl den Verein „dsai“, eine Patientenorganisation für angeborene Immundefekte, gegründet hat. In diesen drei Jahrzehnten ist viel passiert: Von der kleinen Selbsthilfegruppe mit rund zehn Betroffenen bis zur Eröffnung der Bundesgeschäftsstelle in Hochschatzen bei Schnaitsee mit über 1000 Mitgliedern war es ein weiter Weg, wie die Bundesvorsitzende Gründl berichtet.
Eigener
Sohn erkrankt
Das Schlüsselerlebnis der 62-Jährigen: die Erkrankung ihres eigenen Kindes. Als Baby bekam ihr heute 36-jähriger Sohn ständig Harnwegsinfekte. „Wir sind von Doktor zu Doktor gerannt, aber die Ärzte wussten sich keinen Rat. Ständig bekam er Antibiotika, aber nichts half nachhaltig. Die Infekte kehrten immer wieder zurück“, erinnert sich Gründl. Schließlich fand sie Blut in der Windel des Jungen. Daraufhin wurde er zur Behandlung in die Kinderklinik nach München geschickt. Dort stellte man fest, dass die ganze Blase unter Eiter war. „Sie wurde gespült, mein Bub bekam wieder Antibiotika verabreicht. Doch es dauerte nicht lange, bis wieder alles entzündet war“, erzählt sie. Drei Monate war sie mit dem Kleinen in der Klinik. „Das war die schlimmste Zeit in meinem Leben“, sagt sie. „Ich wusste nicht, ob er überlebt.“
Schließlich ging es dem Kind so schlecht, dass die Ärzte Gründl zu einer Bluttransfusion rieten. „Zu der Zeit war Aids ein großes Thema. Tests gab es damals so noch nicht. Es hätte also sein können, dass mein Bub infiziertes Blut bekommt. Aber was blieb mir anderes übrig?“ Nach der Blutgabe bekam ihr Sohn zum ersten Mal Fieber – sein Körper reagierte auf den Infekt. „So wurde überhaupt erst festgestellt, dass er eine Immun-Erkrankung hat. Er konnte keine Antikörper – sogenannte Immunglobuline – bilden“, erklärt Gründl. „Das ist wirklich sehr selten. Deswegen waren auch die zuvor konsultierten Ärzte völlig ratlos“, weiß die 62-Jährige noch gut.
Nach dem Befund bekam ihr Sohn Blutplasma. Bis heute muss er es sich zweimal in der Woche subkutan injizieren, also in den Bauch spritzen. „Früher mussten wir dafür ins Krankenhaus. Das Kind wusste natürlich schon, was ihm blüht – und hat jedes Mal geweint. Das war sehr schwer für mich“, sagt die 62-Jährige.
Mittlerweile geht es einfacher: Die betroffenen Patienten können sich die Nadel zu Hause selbst setzen. Das sei der Bundesvorsitzenden aus Schnaitsee zu verdanken. „Ich dachte mir damals: Das muss doch auch einfacher gehen.“ Bei einer Fortbildung in Schweden traf sie auf einen Arzt, der über diese Methode referierte. „Schweden ist ein flächenmäßig großes Land mit wenigen Kliniken. Die Leute müssten stundenlang fahren für diese eine Injektion. Deswegen war es dort schon erlaubt, sich das Blutplasma selbst zu verabreichen“, berichtet Gründl. „Ich habe mich mit mehreren Pharmaunternehmen in Verbindung gesetzt, zwei sind auf die Idee aufgesprungen. Daraufhin gab es auch Druck vonseiten der Patienten, diese Methode in Deutschland einzuführen“, weiß die Bundesvorsitzende noch gut. „Es gab aber auch Gegenwind. Die Ärzte monierten, dass die regelmäßige Kontrolle wegfallen würde und es war natürlich eine Kostenfrage, schließlich kann man für jede gesetzte Spritze eine Rechnung stellen“, erklärt sie. Doch die Methode der subkutanen Injektion zu Hause setzte sich durch. „Heute machen das rund 80 Prozent der Betroffenen“, so Gründl.
Die dsai-Gründerin kann sich aber auch noch einen weiteren Erfolg auf die Kappe schreiben: der T-Zellen-Test beim Neugeborenen-Screening. „Dieser wird seit 2019 routinemäßig durchgeführt – auf unser Bestreben hin“, sagt sie. Durch diesen könnten schwere, angeborene Immundefekte erkannt und behandelt werden. „Im Hinblick auf Kinder sind wir mittlerweile ganz gut aufgestellt, aber bei Erwachsenen fehlt es noch meilenweit“, ergänzt Sabine Aschekowsky, Pressesprecherin der Organisation.
Das sei unter anderem dem Umstand geschuldet, dass Betroffene „abgestempelt werden“ oder als Hypochonder gelten würden, auch bei Ärzten, wissen die Expertinnen von dsai. „Diese Menschen machen oft wahnsinnig viel mit, bis endlich erkannt wird, welche Krankheit sie haben – ein Martyrium“, so Gründl. Ihr selbst sei es damals nicht anders ergangen. Sie hatte keinen Ansprechpartner, keine Anlaufstelle. „Ich konnte die Ratschläge von manchen schon gar nicht mehr hören, wenn sie von irgendwelchen Vitaminen gesprochen haben. Das war zwar gut gemeint, hat mir aber nicht geholfen. Mein Sohn lebt mit einem schweren Immundefekt, da ist es mit ein paar Tabletten nicht getan.“
Deswegen habe sich die 62-Jährige drei Jahrzehnte lang dafür eingesetzt, dass es anderen nicht so ergeht. Sie gründete zunächst eine kleine Selbsthilfegruppe mit rund zehn Betroffenen. „Wir haben uns ausgetauscht, das war wahnsinnig hilfreich für uns alle. Endlich hatten wir Leute gefunden, denen es genauso ging. Und daraus entstand ‚dsai‘. Heute sind es über 1000 Mitglieder, in Deutschland, Österreich und der Schweiz – eigentlich international, die im Austausch miteinander stehen. Wir haben Kongresse und Ärztefortbildungen organisiert, um auf Krankheitsbilder aufmerksam zu machen und Experten dafür zu sensibilisieren – alles ehrenamtlich und auf Spendenbasis“, berichtet Gründl.
Check für Kinder
und Erwachsene
„Wir wollen aufklären, den Betroffenen zuhören und sie an entsprechende Stellen weitervermitteln“, betont sie. „Die Leute sind so dankbar, wenn sie endlich – oft vergehen Jahre – auf jemanden treffen, der ihre Krankheit versteht und sie ernst nimmt“, sagt Aschekowsky. Das bestätigt Andrea Maier-Neuner, Geschäftsführerin bei dsai. „Bis zur Diagnose vergehen durchschnittlich sieben Jahre. Und das bei uns in Deutschland, im Jahr 2024“, sagt sie kopfschüttelnd. „Für die Betroffenen eine lange Zeit.“ Deshalb hätten sie unter anderem den „Immuncheck für Kinder und Erwachsene“ ins Leben gerufen. Diesen einfachen Test können Erkrankte durchführen, um einen möglichen Immundefekt zu entdecken.
2017 hat Gründl für ihre ehrenamtliche Tätigkeit bei dsai das Bundesverdienstkreuz erhalten. Nun möchte die Gründerin „ein bisschen kürzer“ treten. „Ich habe ein engagiertes Team, das alles im Griff hat“, sagt sie stolz. Die Vorsitzende freue sich darüber, dass sie nun mehr Zeit mit ihrem zweijährigen „glücklicherweise kerngesunden Enkelkind“ verbringen kann.