Zwei Schwestern und ein Jahrhundert

von Redaktion

Am heutigen Samstag wird der Niggl-Hof in Frasdorf aus allen Fugen platzen: Nanni Hamberger feiert ihren 100. Geburtstag. Und weit mehr als 100 Gäste werden zur Feier erwartet. Fürs OVB haben die Niggl-Schwestern Nanni und Gretl schöne und traurige Familienerinnerungen ausgekramt.

Frasdorf – „Ein 100. Geburtstag, das ist etwas ganz Seltenes in Frasdorf“, sagt Ortschronist Rupert Wörndl. Er ist immer wieder mal bei den Niggl-Schwestern Anna und Margaretha zu Gast. Schreibt auf, woran sie sich erinnern. Und das ist unvorstellbar viel, umfasst eine Zeitspanne von 100 Jahren – von den Goldenen Zwanzigern über Weltwirtschaftskrise, Drittes Reich, Autobahnbau, Zweiten Weltkrieg, Wirtschaftswunder und -krisen, Corona-Lockdowns und regionale Familiengeschichten bis ins Heute.

Außergewöhnliche
Zeitzeugen

Es gibt kaum noch andere Zeitzeugen aus den 1920er-Jahren. „Ist in Frasdorf überhaupt schonmal einmal jemand 100 Jahre alt geworden?“, fragen sich Rupert, Nanni und Gretl in ihrer vertrauten Runde. Sie grübeln einen Moment und dann fällt es ihnen wieder ein: „Die Lena vom Stein-Hof in Laiming.“ Doch auch das ist schon wieder ein paar Jahre her.

Am 7. Dezember 1924 kam Anna Hamberger auf dem Niggl-Hof in Pfannstiel zur Welt. Als viertes von insgesamt sechs Kindern. „Frühmorgens um 5 Uhr“, hat die Mutter ihr erzählt. Ob an dem Tag Schnee lag, weiß sie nicht, denn die Jahre danach prägten sich tiefer ins Familiengedächtnis ein. Als Josef gerade ein Jahr alt geworden, die Mutter mit Gretl schwanger war und der Vater starb. „Am 26. Dezember 1926, dem Stefanitag, haben wir ihn beerdigt“, erzählt Nanni. Damals war sie gerade zwei Jahre alt. Ein Weihnachtsfest voller Leid und Sorgen. Die Mutter allein mit fünf kleinen Kindern und einem sechsten unter ihrem Herzen.

Wie sie das damals geschafft haben? Mit dem Bauernhof. Acht Kühen, einem Ochsen und dem Land, was bewirtschaftet werden musste. „Mutter hatte einen Knecht und zwei Mägde“, erzählt Gretl, die 1927 geboren wurde. Sie hat es nicht bewusst erlebt, aber die Erzählungen der Mutter aufgesogen und 97 Jahre lang in ihrem Gedächtnis bewahrt. „Dass wir mal so alt werden würden, hätten wir nicht gedacht“, sagen die Schwestern.

Immer sehr
bescheiden gelebt

An Not können sie sich nicht erinnern. Zumindest keine Hungersnot. „Wir hatten immer ein Schwein fürs Fleisch, Gemüse aus dem Garten, Getreide von unseren Feldern“, erzählt Gretl und erinnert sich voller Wonne ans selbst gebackene Brot und die „geselchten Fleischknödel“, die es an Weihnachten gab. „Heute würde man Speckknödel dazu sagen“, übersetzt Ortschronist Rupert Wörndl die kaum noch bekannten Worte für dieses Gericht.

Trotzdem haben die Niggl-Schwestern immer sehr bescheiden gelebt. Fleisch gab es selten. Dafür die Ernte aus dem Garten. „Wir waren immer Selbstversorger. Und unsere Mutter hat großen Wert auf gesunde Ernährung gelegt“, sagt Nanni. Vielleicht ist das ja das Geheimnis ihres langen Lebens.

Dankbar sind die Beiden für ihre Familie und für jenen Mann, der 1931 zu ihnen kam: Franz Hagen, ein Bauersknecht aus Holzkirchen, der um ihre Mutter warb. „Er war ein guter Mann, hat eine Frau mit sechs kleinen Kindern geheiratet. Stellen Sie sich das mal vor“, sagt Gretl voller Hochachtung für einen Stiefvater, der ihnen ein guter Vater war. Der gemeinsam mit der Mutter dafür sorgte, dass Hof und Stall, schon damals fast 400 Jahre alt, erhalten blieben.

Und dafür, dass die Familie wieder komplett war und alle Lebenskrisen meistern konnte. Den Autobahnbau 1934 bis 1936, für den auch die Hambergers 1,5 Tagwerk Land – das ist etwa ein halber Hektar – abtreten mussten. Oder an den Zweiten Weltkrieg, in dem die Brüder an der Ostfront kämpften und die Frauen in Pfannstiel im Heustock der Tenne Schutz vor den Bomben suchten.

„70 Frasdorfer ließen ihr Leben in diesem Krieg, manche kaum älter als ich“, erinnert sich Gretl. Als wieder Frieden war, feierte sie ihren 18. Geburtstag. Und Nanni war mit 21 gerade erwachsen geworden. Die Familie Hamberger hatte Glück: Beide Söhne und Brüder kehrten zurück. „Wenn auch mit einer geschundenen Seele, mit furchtbaren Erlebnissen, auf abenteuerlichen Wegen und mehr tot als lebendig“, sagt Nanni und hat das Leid jener Jahre in ihren Augen.

Josef war es, der mit 17 eingezogen wurde, lange als vermisst galt und den Zweiten Weltkrieg wie durch ein Wunder doch überlebte. Im September 1945 wurde er in Leningrad – dem heutigen St. Petersburg – aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft entlassen und schlug sich zu Fuß bis in die Heimat durch. Ihr Sepp, der große Bildhauer und Schöpfer sakraler Kunst, von dem die Schwestern noch immer voller Bewunderung sprechen.

„Er war kaum drei Jahre alt, als er unsere Mutter um ein Stück Brotteig bat und daraus Tiere formte“, beschreibt Gretl sein Naturtalent, denn „kein Mensch hatte ihm das vorher gezeigt“.

1925 wurde er geboren, im Jahr zwischen Nanni und Gretl. 2019 starb er im Alter von 93 Jahren. Einige Entwürfe seiner Werke – wie das Abendmahl oder eine Station des Kreuzweges – zieren die Wände der kleinen Stube seiner Schwestern und verbinden sie bis heute mit ihrem Bruder Sepp. Schöne Erinnerungen haben die Niggl-Dirndl an die ersten Sommerfrischler. 1933 kamen sie nach Frasdorf, wohnten den ganzen Sommer über auf dem Niggl-Hof. Mit ihnen, mit „Frau Burmeister und ihren Kindern“, durften die Mädchen im Bach baden gehen. „Doch zum Schiebern mussten wir wieder daheim sein“, beschreiben sie den Arbeitsalltag auf dem Bauernhof.

Von Freiheit
und Aufgaben

Die Kinder hatten ihre Freiheiten, aber auch ihre Aufgaben. „Dann haben wir das Heu zusammengeschoben, damit es nachts vom Tau nicht wieder so nass wird. Am nächsten Tag breiteten wir es zum Trocknen wieder aus“, erklärt Nanni das „Schiebern“.

Auch Autobahn-Bauer quartierten sich von 1934 bis 1936 bei ihnen ein. „Wenn sie an Regentagen völlig durchnässt von der Baustelle kamen, hat Mutter den Ofen angeheizt und ihre Kleidung zum Trocknen aufgehängt“, wissen Nanni und Gretl noch, als wäre es erst gestern gewesen.

Als die Eltern nicht mehr waren, hat ihr großer Bruder Lorenz den Hof in Pfannstiel übernommen und hier mit Nanni und Gretl gelebt. „Wie wir beide hat auch er nie geheiratet. Es hat sich eben nichts ergeben“, sagt Gretl. Gefehlt hat es ihnen trotzdem an nichts.´

„Wir sind in unserer Jugend nicht groß rausgekommen, waren immer daheim, haben ein einfaches Bauernleben geführt“, erzählt Nanni. Als sie die Landwirtschaft aufgaben, arbeitete Lenz als Lagerist. Nanni war Schwesternhelferin im Priener Krankenhaus. Und Gretl kümmerte sich um die vielen Kinder und Enkel der Großfamilie. Erst in der 1970er-Jahren, da waren sie schon um die 50, begann für sie die Zeit, in der sie die Welt auf Reisen erkunden konnten.

Der enge Familienverbund der sechs Hamberger-Geschwister sorgte dafür, dass das Haus voller Leben war. „Wir hatten immer viele Kinder um uns“, sagt Nanni strahlend. Ihre beiden Schwestern Marie und Theresia hatten zwölf, Josef drei Kinder. 15-mal neues Leben im Haus und das potenziert mit Enkeln und Urenkeln. Für Nanni und Gretl also Nichten und Neffen oder Groß- und Urgroßnichten und -neffen. Eine große Familie eben. Und die haben sie bis heute. Liebevoll streichelt die 100-jährige Nanni der fünfjährigen Elisa über ihr strohblondes Haar. Die Kleine ist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Das sagen alle, die die vergilbten Familienfotos der Hambergers kennen. Elisa und ihre Schwestern Theresia (9) und Malena (2) sind die Ururenkelinnen der ältesten Niggl-Schwester Theresia, die heute 102 Jahre alt wäre, aber schon 2002 im Alter von 80 Jahren verstorben ist. Vor elf Jahren ist Resis Urenkel Lorenz Hamberger (35) mit seiner Frau Verena (31) in den Niggl-Hof eingezogen. Sie haben sich den Dachboden ausgebaut, leben mit ihren drei Töchtern, mit Nanni und Gretl unter einem Dach. Und sind für sie da, wenn sie Hilfe brauchen.

Heute wird
gefeiert

In den vergangenen Tagen war der fast 500-jährige Niggl-Hof von ganz viel Heimlichkeit erfüllt. Die jungen Leute haben mit ihren Töchtern den einstigen Stall für Nannis Geburtstag hergerichtet. Fast 100 Gäste werden am Samstag (7. Dezember) erwartet. Der Frasdorfer Kirchenchor bringt der Jubilarin ein Ständchen. Darauf freuen sich die Niggl-Dirndl ganz besonders, denn ihm gehörten sie mehr als 73 Jahre lang an. „Wir haben so gern gesungen“, erinnern sie sich mit leuchtenden Augen. „Im Winter in der Stube. Im Sommer auf der Hausbank. Da haben uns die Leute sogar in Ginnerting noch gehört. Bis die Autobahn gebaut wurde“, erzählt Gretl. Und Nanni weiß noch, dass der Vater immer sagte, dass er kein Radio brauche, weil er sein Musikprogramm im Haus habe. „Er hat es geliebt, wenn wir gesungen haben.“

Die beiden 100 und 97 Jahre alten Schwestern schwelgen in glücklichen Erinnerungen, schauen sich an und werden sich bewusst: „Wir sind die Letzten von sechs Geschwistern. Gut, dass wir zusammen alt werden dürfen.“ Sie wenden sich ihren Besuchern zu und sagen voller Liebe: „Es ist schön, wenn man sein ganzes Leben lang daheim sein darf.“

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