Inntal – Als es Ende 2017 mit einer vermeintlich harmlosen Infektion beginnt, ahnt Martina Meier aus dem Inntal noch nicht, welche Odyssee auf sie und ihre Kinder Anna und Luis zukommt (Namen von der Redaktion geändert). Niemand kann ihnen helfen. Ein „Crash“ folgt auf den nächsten – inklusive wochenlanger Bettlägerigkeit, Schulproblemen und Arbeitsunfähigkeit.
Ausgerechnet eine Long-Covid-Erkrankung sorgt dafür, dass die Meiers eine Diagnose erhalten: Sie leiden unter ME/CFS. Was es damit auf sich hat und warum für die Familie der tägliche Kampf um Anerkennung und Unterstützung nicht aufhört.
Erst Corona
schärft den Blick
Fieber, Hals- und Kopfschmerzen: Als ihre Kinder krank werden, geht die Mutter von einem normalen Infekt aus. Doch sie erinnert sich: „Sie hingen ziemlich in den Seilen, also bin ich mit ihnen doch zum Arzt gefahren.“ Ein normaler Virus, heißt es zuerst, doch bei der Untersuchung werden erste Petechien am Bauch ihres Sohnes festgestellt. Das sind stecknadelkopfgroße, punktförmige Einblutungen, die auf eine schwerwiegende Infektion hindeuten. Er muss ins Krankenhaus: der Beginn einer jahrelangen Odyssee für Martina Meier und ihre Kinder Anna und Luis.
In der Klinik wird ein Virus bestätigt. Und auch der Rest der Familie steckt sich an: „Anna hat eine atypische Lungenentzündung bekommen und eine Gangstörung. Bei mir ging es mit massiven Nackenschmerzen und Innenohrproblemen los“, schildert Meier. Über viele Wochen und Monate kommen immer wieder neue Symptome hinzu. „Viele komische Sachen, die niemand einordnen konnte.“
Wenn selbst der
Hausarzt verzweifelt
Allein mit ihrer Tochter muss sie mehrmals ins Krankenhaus, doch eine Diagnose bleibt aus. Irgendwann sagt ihr der Hausarzt verzweifelt: „Wo soll ich sie noch hinschicken, wenn nicht mal die Klinik weiterweiß?“ Das beschäftigt die Mutter, aber sie denkt sich: Lieber ein Arzt, der zugibt, dass er damit überfordert ist, als wenn man ihr sagt, alles sei in Ordnung, und es werde schon irgendwann wieder besser. „Das haben wir auch immer wieder zu hören bekommen.“
Wie Corona zur
Rettung wurde
Doch Meier lässt nicht locker. Sie recherchiert, probiert viel aus, ist bei einigen Ärzten und Kliniken. Sie merkt einfach: Da steckt mehr dahinter. „Wir haben uns nicht mehr vollständig erholt, waren sehr anfällig für Infekte, und es kamen Migräne, Schwindel und Erschöpfung dazu.“ Die Symptome bleiben jahrelang die gleichen, die Ungewissheit wird zum Dauerbegleiter. „Im Nachhinein betrachtet wissen wir, dass wir regelmäßige Crashs erlebt haben“, erklärt die Mutter.
Sie bezeichnet es als „sehr frustrierend“, als Mutter mit ansehen zu müssen, wie schlecht es ihren Kindern geht. Und dann kommen noch die gut gemeinten, aber nicht hilfreichen Sprüche dazu. „Die halten nichts aus“ oder „Die sollen sich nicht so anstellen“, heißt es zu ihr. Ein Phänomen, dass auch die Rehaklinik Schönsicht im Berchtesgadener Land beim Umgang mit Long-Covid-Patienten bestätigen kann. Meier findet: „Meine Kinder halten jeden Tag verdammt viel aus und haben mehr Herausforderungen als gesunde Kinder.“ Denn sobald sie in den besseren Phasen zur Schule gehen, kommt sofort der Druck, Unterrichtsstoff nachzuholen und Schulaufgaben nachzuschreiben. „Das hat es natürlich nicht besser gemacht.“
Dass sich ausgerechnet die Corona-Pandemie als „Glücksfall“ herausstellt, fällt wohl unter die Kategorie „Ironie des Schicksals“. Die Familie erkrankt an Long Covid, und nur deshalb finden die Ärzte schließlich heraus, was ihr seit Jahren das Leben erschwert: Die Meiers leiden unter Myalgischer Enzephalomyelitis, dem Chronischen Fatigue-Syndrom (ME/CFS), einer schweren Multisystemerkrankung.
Wochenlanges Fieber, massive Magenprobleme und Kopfschmerzen, dazu die Bettlägerigkeit: Die Familie aus dem Inntal macht weiter schwere Zeiten durch. Aber immerhin haben sie nun endlich eine Diagnose und lernen, mit der Erkrankung umzugehen.
Meier wendet sich auch deshalb an die Öffentlichkeit, weil sie weiß, wie schwierig ME/CFS für Außenstehende einzuschätzen und nachzuvollziehen ist. „Ich will aufklären, etwas Positives bewirken und anderen Betroffenen helfen“, betont sie. Noch immer sei zu wenig darüber bekannt, trotz der Pandemie. Unterstützung findet sie im Verein „NichtGenesenKids“, der betroffenen Familien Hilfe anbietet und sie untereinander vernetzt.
Es hilft ihr, sich mit Gleichgesinnten auszutauschen. Denn in ihrem Umfeld erhält sie Ratschläge wie „Geht an die frische Luft“. Auch muss sie sich Vorwürfe wie „Die Kinder müssen doch zur Schule gehen“ anhören. „Die wollen in die Schule gehen und dabei sein, aber sie können nicht. Diese Probleme dem Umfeld klarzumachen, ist sehr schwer“, erzählt Meier. Allein wegen Covid verlieren Anna und Luis ein komplettes Schuljahr, weil eine Beschulung unter anderem wegen des gestörten Schlaf-Rhythmus erschwert und kaum möglich war.
Lehrerin ist seitdem
arbeitsunfähig
Hobbys wie Fußball, Reiten und Skifahren sind auch nicht mehr möglich. Die persönliche Entwicklung und Selbstbestimmung der Kinder leidet, die gesellschaftliche Teilhabe ist stark eingeschränkt. Wenn es gut läuft, kann die Familie spazieren gehen – mehr auch nicht. „Im Vergleich zu anderen Betroffenen müssen wir darüber fast schon froh sein“, meint die Mutter. Sie selbst kann ihren Job als Lehrerin nicht mehr ausüben und ist seitdem arbeitsunfähig.
Als wäre das Leben mit ME/CFS nicht schon schwierig genug, muss die Familie noch um Hilfe kämpfen. Das strengt natürlich zusätzlich an. „Der Umgang mit Schulen und Behörden ist eine zusätzliche Herausforderung“, sagt Meier und erklärt zum Beispiel, dass trotz der Diagnose zuerst beim Grad der Behinderung eine falsche Diagnose angenommen wird. Sie muss Widerspruch einlegen, weil ihr eine psychische Erkrankung bescheinigt wird. Meier lernt schnell: Selbstverständlich ist gar nichts.
Wenn man sie danach fragt, was Betroffenen helfen würde, antwortet sie: „Im Verlauf der Erkrankung kommen häufig Gefühle von Machtlosigkeit auf und dass man damit alleingelassen wird. Allen Betroffenen wünsche ich Familien, Freunde, Ärzte, Therapeuten und Behörden, die sich informieren, sie ernst nehmen und in ihrem Sinne begleiten und unterstützen anstatt durch Maßnahmen, Druck und Unverständnis aus Unkenntnis zu einer Verschlechterung der Symptomatik beizutragen.“
Wenn jeder Tag zum
Belastungstest wird
Früher waren die Meiers eine offene, neugierige und unternehmungsfreudige Familie. „Doch jetzt leben wir mit angezogener Handbremse.“ Auch das gehört zu ihrem Leben: Die individuelle Belastungsgrenze verändert sich: von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, von Monat zu Monat. Was heute problemlos klappt, geht vielleicht schon morgen nicht mehr.
Wie es weitergehen soll, darüber macht sich die Mutter schon Gedanken. Sie merkt: Im Schulsystem haben die Kinder noch eine Art Absicherung. Doch ihr Sohn ist im jugendlichen Alter angekommen, ihre Tochter eine junge Erwachsene. „Sie sollten feiern, ihre Ausbildung machen und raus in die Welt gehen. Aber wie geht es weiter? Wie werden vor allem junge Erwachsene aufgefangen?“ Sie fordert mehr Unterstützung für die Familien und Investitionen in die Erforschung der Erkrankung.
Bloß nicht
unterkriegen lassen
Mittlerweile haben die Meiers einen Weg gefunden, mit der Erkrankung und dem kompletten Lebenswandel irgendwie klarzukommen. Sie lassen sich nicht hängen, auch wenn es oft genug schwerfällt. Denn auf gute Phasen folgen stets die schlechten. Doch die Mutter weiß: „Am wichtigsten ist es, nicht die Zuversicht zu verlieren.“
Sie ist dankbar, inzwischen ein gutes Team aus aufgeschlossenen Ärzten und Therapeuten gefunden zu haben sowie einen Mobilen Sonderpädagogischen Dienst und eine engagierte Schule. „Das unterstützt ungemein“, so Meier, denn sie und ihre Kinder haben jahrelang die Erfahrung gemacht: All das ist bisher noch die Ausnahme.
Obwohl jeder Tag ein Kampf ist: Die Meiers lassen sich nicht unterkriegen. „Auch wenn es ein harter Brocken war und bleiben wird: Wir haben uns durchgekämpft! Wir wollen nach vorn blicken und so gut wie möglich durchkommen.“ Diese Zuversicht bringt sie auch in einem Song zum Ausdruck, den sie für ihre Kinder geschrieben hat. Dieser lautet: „Whatever comes your way, just know – I believe in you.“