Los Angeles/Aschau – „Die Lage scheint unter Kontrolle zu sein, von den fürs Wochenende prognostizierten neuen Stürmen haben wir noch nichts gespürt.“ Seit einigen Tagen gibt Dr. Natascha Mehler aus Aschau täglich ein Update. Die Vorsitzende des Heimat- und Geschichtsvereins ist mit ihrer Familie gerade in Los Angeles. Dort haben sich Waldbrände zu einer unvorstellbaren Feuerwalze ausgebreitet, die seit dem 8. Januar mehr als 24 Leben, 12000 Gebäude und 15000 Hektar Wald vernichtet hat. Mehr als 180000 Menschen sind auf der Flucht vor dem Flammen-Inferno. Die Bilder schockieren die Welt. Freunde und Familie in der Heimat machen sich Sorgen um die Archäologin, ihren Mann Markus, die Kinder Smilla und Sölvi. „Wir waren immer in Sicherheit“, kann sie beruhigen.
Riesige Flammen,
beißender Qualm
Die Professorin für Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit an der Universität Tübingen weilt seit dem 29. Dezember in Los Angeles. Am anthropologischen Institut der University of California in Los Angeles (UCLA) vertieft sie ihre archäologischen Forschungen – unter anderem zur Emigration von Deutschen im Mittelalter und in der Neuzeit, zum Handel der Hansestädte Hamburg und Bremen sowie zur Auswanderung nach Paraguay.
In Venice, einem Stadtteil im Südwesten von Los Angeles, hat die Familie für acht Monate ihr Quartier bezogen. „Wir sind hier etwa sechs bis acht Kilometer vom Palisades-Feuer entfernt“, beschreibt die Archäologin. Auch aus dieser Entfernung haben sie die riesigen Flammen und Rauchschwaden gesehen. „Ich musste an Pompeji denken“, sagt sie. Nach dem Ausbruch des Vesuv waren die Menschen dort im Jahr 79 nach Christus an giftigen Gasen erstickt, von Gesteinsbrocken erschlagen oder den Glutlawinen getötet worden. Eine ganze Stadt wurde unter Vulkanasche begraben.
Fast 2000 Jahre später wüten in Los Angeles Waldbrände nie erreichten Ausmaßes. „Man kann den Brand riechen. Die Luft ist trotz der Entfernung zum Feuer voller Aschepartikel, die Oberflächen sind mit Asche überzogen“, schildert die 54-Jährige. Wegen der gefährlichen Rauchentwicklung wurde in LA der Gesundheitsnotstand ausgerufen. „Wir spüren hier in Venice beim Atmen noch keine Einschränkungen. Aber viele Menschen benutzen trotzdem Masken“, berichtet Natascha Mehler. Das weckt Erinnerungen an die Corona-Pandemie.
Während aufgrund von Plünderungen für die Evakuierungszonen der Ausnahmezustand verhängt wurde, ist es im Südwesten, im Stadtteil Venice, noch friedlich. „Doch nur sechs Kilometer weiter nördlich spielen sich apokalyptische Szenen ab“, beschreibt die Archäologin. Ganze Straßenzüge sind niedergebrannt. Zigtausende Menschen haben ihr Zuhause verloren.
Kollegen und Freunde
haben alles verloren
Auch die UCLA im Stadtteil Westwood befindet sich in der Gefahrenzone. „Sie ist aktuell nicht vom Feuer bedroht, aber rundherum haben die Flammen innerhalb weniger Stunden viele Existenzen vernichtet“, beschreibt Natascha Mehler die Dramatik. Amerikanische Kollegen haben ihr Fotos gezeigt. Sie zeigen, was von den Häusern ihrer Freunde übrig geblieben ist: gemauerte Kamine, Stahltreppen, verkohlte Reste ihrer Existenz.
Nicht alle sind versichert. Zum einen, weil die Versicherungsprämien immens hoch sind. „Zum anderen, weil Gebäude erst versichert werden, wenn sie fertig sind“, haben die amerikanischen Kollegen von Natascha erzählt. In Beverly Hills seien deshalb auch unversicherte Millionen-Baustellen abgebrannt.
Inzwischen haben sich die Santa-Ana-Winde gelegt. „Sie fühlten sich an wie die Stürme in Aschau. In den letzten Tagen haben wir hier in Venice rund um die Uhr Sirenen und Hubschrauber gehört“, beschreibt sie die bedrohliche Kulisse. Am Wochenende hat sich die Situation beruhigt. Das Palisade-Feuer ist eingedämmt, aber nicht gelöscht. Noch ist die Katastrophe nicht vorbei. Die Rettungskräfte stellen sich auf erneute kräftige Winde ein. Das könnte die Brände wieder aufflammen lassen, ihre Bekämpfung erschweren. Schon am Sonntag sollten die Santa-Ana-Winde wieder heftiger werden. „Davon haben wir zum Glück noch nichts gespürt“, beruhigt Natascha Mehler Familie und Freunde in Deutschland.
Gefahr neuer Stürme
und Brände droht
Doch für den morgigen Mittwoch prognostiziert der US-Wetterdienst neue Böen: In Ortschaften wie Venice oder Santa Monica im Südwesten von LA sollen sie Geschwindigkeiten von bis zu 50 Kilometern pro Stunde erreichen. „Doch in den Berggebieten, in denen das Palisade-Feuer immer noch aktiv brennt, können die Stürme Windgeschwindigkeiten von bis zu 120 Kilometern pro Stunde erreichen“, heißt es auf der Homepage der Stadt.
Familie Mehler ist in Sicherheit. „Wir waren immer gut informiert“, beschreibt Natascha die Kommunikation. Über Warnapps auf dem Smartphone, die Homepage des Los Angeles Fire Department oder das Fernsehen. „Die Schulen haben die Familien telefonisch informiert, dass der Unterricht ausfällt“, erzählt Natascha. Alle Schulen in LA sind und bleiben geschlossen. Auch die Uni hat angekündigt, dass sie die ganze nächste Woche geschlossen bleibt – wegen Rauch, Asche und Atembeschwerden. „Arbeit, Schule und Lehre sind nur online möglich, so wie in der Pandemie. Doch vier Schulen bieten auch weiterhin eine Essensversorgung an, denn LA hat die zweithöchste Obdachlosenquote im ganzen Land. Für viele Kinder ist es überlebenswichtig, dass sie in der Schule kostenloses Essen bekommen“, ordnet Mehler dieses Angebot ein.
Ein Obdachloser wurde als möglicher Brandstifter festgenommen. Auch defekte Stromleitungen, die mangelnde Wasserversorgung und Ausstattung der Feuerwehr werden als Ursachen für das Ausmaß der Katastrophe diskutiert. „Viele Menschen haben alles verloren, sind niedergeschlagen und natürlich auch wütend“, hat Mehler Verständnis für die Suche nach Schuldigen. Eines aber wundert sie: „Dass der Klimawandel eine Ursache sein könnte, kam hier nicht einmal zur Sprache.“ Dabei hat es in LA seit neun Monaten nicht geregnet. Das Ausmaß der Dürre ist nicht zu übersehen. „Alles ist vertrocknet, Palmen, Hecken, Sträucher, ja sogar Kakteen“, beschreibt Mehler die „knochentrockenen Pflanzen“ an Straßen und in Gärten. „Da reicht ein Funken und es brennt lichterloh.“