Aschau im Chiemgau – Wäre alles gewesen wie immer, wäre Hans S. nicht in jenem Bus gesessen, der am 7. März 1975 am Bahnübergang in Allach von einem Zug gerammt wurde. Doch durch einen tragischen Zufall wurde der 29-Jährige aus Aschau im Chiemgau eines der Todesopfer jenes Unglücks, das sich am Freitag zum 50. Mal jährte.
Hans S., der Betriebswirtschaft studierte, fuhr regelmäßig mit dem Bus zur Universität, „nie aber mit der Linie des Unglücksfahrzeugs“, berichtete das Oberbayerische Volksblatt (OVB) am 13. März 1975. „Am Freitag verpasste er seinen Bus und nahm zwei Minuten später die Fahrgelegenheit über Allach wahr. In drei Monaten wäre der Aschauer nach neun Semestern mit dem Studium fertig gewesen. Das Abitur hatte er auf dem zweiten Bildungsweg gemacht. Nach dem Besuch der Realschule in Rosenheim mit dem Abschluss der Mittleren Reife hatte S. als Bankkaufmann in der Sparkasse in Bernau gearbeitet.“ Er war eines von 14 Todesopfern, die an jenem verhängnisvollen Freitag, am 7. März 1975, zu beklagen waren. „Zu einem grauenhaften Unglück kam es gestern gegen 7.30 Uhr am höhengleichen Bahnübergang in der Krauss-Maffei-Straße nahe dem Allacher Bahnhof. Als der Schrankenwärter nach der Durchfahrt eines S-Bahn-Zuges aus Richtung Dachau die Schranke vorzeitig öffnete, prallte der fahrplanmäßige Zug München-Ingolstadt mit 120 Stundenkilometern gegen einen mit 15 Personen besetzten Bus. Zwölf Menschen kamen ums Leben, darunter auch der Busfahrer und sechs Kinder“, setzte ein Bericht in der Zeitung vom 8. März 1975 an. „Fünf Personen, darunter auch ein Lokführer, wurden verletzt. Der Schrankenwärter, der mit einer Anklage wegen fahrlässiger Tötung rechnen muss, liegt mit einem Nervenschock im Krankenhaus.“ Zwei der Verletzten verstarben später noch.
Im Prozess – zwei Jahre später – gab es dann jedoch eine überraschende Wendung: Der Schrankenwärter stand nicht vor Gericht. Denn, wie es in einer Titelgeschichte am 2. Februar 1977 hieß, nach Ansicht der Justizbehörden war für ihn „nicht erkennbar gewesen, dass er überfordert war“. Stattdessen mussten sich drei führende Beamte der Bundesbahn verantworten. Sie wurden zu Bewährungsstrafen von je acht Monaten wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung verurteilt. „In der Urteilsbegründung hieß es, die drei Verurteilten hätten erkennen müssen, dass Zweifel an der Zuverlässigkeit des Schrankenwärters bestanden hätten. Der Personalakte des Schrankenwärters seien nicht nur Unterlagen über frühere Dienstvergehen, sondern auch eine Disziplinarverfügung von einem Bahnhof, an dem der Wärter vor dem Unfall beschäftigt war, beigefügt gewesen.“
Die Verurteilten hätten von der Versetzung des Schrankenwärters nach Allach absehen müssen, befand das Gericht. Es sei für sie voraussehbar gewesen, dass bei den bestehenden Zweifeln ein Unfall nicht ausgeschlossen werden könne.
Zum Freispruch der beiden Lokomotivführer erklärte das Gericht, sie hätten den Unfall nicht vermeiden können. Es sei auch nicht ihre Pflicht, ständig die Schranken zu beobachten. Ein angeklagter Bundesbahnarzt habe keine Veranlassung gehabt, auf die Zweifel an der Zuverlässigkeit des Schrankenwärters hinzuweisen. „Ihm sei deshalb genauso wenig wie den beiden letzten Freigesprochenen, einem Oberrat und einem pensionierten Amtmann der Bundesbahn, eine Pflichtwidrigkeit vorzuwerfen.“
Hans S. wurde eine Woche nach dem Unglück „unter großer Anteilnahme der Bevölkerung“ zu Grabe getragen, wie die Zeitung am 15. März 1975 berichtete. „Pfarrer Deschler, der den Seelengottesdienst zelebrierte, schilderte S. als einen jungen Mann, der hoffnungsvoll in die Zukunft geschaut und durch sein herzliches, offenes Wesen viele Freunde gehabt habe. Auch für die Angehörigen fand der Geistliche trostreiche Worte, nach dem Gottesdienst trugen Freunde des Verstorbenen, geleitet von einer großen Trauergemeinde, darunter die Bürgermeister Bauer und Öttl, Gemeinderäte, die Fahnenabordnungen des Trachtenvereins ‚Dö Griabinga‘ und des Krankenunterstützungsvereins, S. zu seiner letzten Ruhestätte. Nach den Gebeten senkten sich die Fahnen zum letzten Gruß über das offene Grab.“