Nicht vor meiner Haustür!

von Redaktion

Interview Juristin Monika Hermann über Rechte, Klagewut und Großprojekte

Aschau/Frasdorf/Landkreis – Bürgerbegehren gegen Heizwerke, PV-Anlagen oder Chalet-Dörfer. Klagen gegen den Ausbau der A8, den Neubau der Kampenwandbahn, den Bau von Wohnungen: Viele Bauvorhaben in der Region werden durch Bürgerentscheide oder Klagen gestoppt, verzögert oder verhindert. Und das betrifft nicht mehr nur Großprojekte, sondern auch kleine Bauvorhaben. Rechtsanwältin Monika Hermann aus Rosenheim ist Expertin für öffentliches Baurecht. Im OVB-Interview erklärt sie, warum gesellschaftliche Entwicklung nur möglich ist, wenn sich Menschen als Teil der Gesellschaft wahrnehmen.

Sie beschäftigen sich seit 27 Jahren mit Bauleitplanung und Baugenehmigungen – einer wichtigen Schnittstelle zwischen Bürger und Staat. Wehren sich die Menschen heute häufiger gegen Bauvorhaben als noch vor ein paar Jahren?

Klagen gab es immer und es wird sie hoffentlich immer geben. Denn Rechtsschutzmöglichkeiten bilden einen wichtigen Grundpfeiler des Rechtsstaates. Dies gilt insbesondere im Verwaltungsrecht, wo der Staat dem Bürger hoheitlich gegenübertritt. Die Zahl der Klagen im öffentlichen Baurecht variiert, da dies von vielen verschiedenen Faktoren abhängt. Aber man spürt, dass sich das gesellschaftliche Klima verändert hat. Ein Teil der Gesellschaft ist aggressiver geworden.

Woran liegt das?

Ich denke, das hat etwas mit dem gesellschaftlichen Transformationsprozess zu tun, in dem wir leben. Wir durchleben die größte technologische Revolution der Menschheitsgeschichte. Wir erleben eine fundamentale Umwälzung der Weltordnung. Unsicherheit und Ängste sind größer geworden, weil alle spüren, dass der „Boden im Moment schwankt“. Aber auch der ungehemmte Egoismus in einem Teil der Gesellschaft ist stärker ausgeprägt als früher. Das merkt man am aggressiveren Ton und Umgang und natürlich auch an Klagen, mit denen manche auf bestimmte Entwicklungen reagieren.

Wie weit geht diese Aggressivität?

Neben den rechtlichen Instrumenten werden auch politische Wege genutzt. Das ist grundsätzlich legitim und war immer so. Es geht aber zu weit, wenn anonyme Drohungen verfasst werden oder zum Beispiel Gemeinderäte massiv unter Druck gesetzt werden – sei es schriftlich oder durch das Aufsuchen in Privathäusern. Ich weiß von Bürgermeistern, dass sie Morddrohungen bekommen haben. Auch Gemeinderäte berichten, dass ihnen gegenüber nicht immer das beste Vokabular gewählt wird. Das gab es früher deutlich weniger.

Wird gesellschaftliche Entwicklung behindert, wenn individuelle Interessen zu sehr in den Fokus gerückt werden?

Das Individuum ist wichtig. Die Würde des einzelnen Menschen bildet den Kernpunkt der liberalen Demokratie. Aber ich glaube, das Bewusstsein, dass jeder einzelne Mensch auch Teil einer Gesamtgesellschaft ist, hat nachgelassen. In einer liberalen Demokratie muss dieser Ausgleich zwischen den Interessen der Allgemeinheit und des Individuums immer wieder neu gefunden werden – in der Gesellschaft und in der Rechtsordnung. Wird beispielsweise eine Fernstraße gebaut, dann ist klar, dass das Individualinteresse teilweise hinter dem Allgemeininteresse zurücktreten muss. Im Rahmen einer Nachbarklage gegen eine Baugenehmigung kann der Nachbar eben nur nachbarschützende Rechte geltend machen, nicht das öffentliche Interesse. Manchmal wird allerdings versucht, Projekte mit allen Mitteln zu verhindern. Besonders kurios fand ich den Versuch, ein Projekt dadurch zu verhindern, dass im Rahmen eines Verfahrens auf eine streng geschützte Froschart hingewiesen wurde. Eine Biologin stellte dann allerdings fest, dass die Frösche in Deutschland gar nicht vorkommen. Sie wurden also eingekauft und gezielt ausgesetzt.

Haben Bürger bei Planungsprozessen zu viele Möglichkeiten, Verfahren zu behindern?

Man sollte die Verfahren sicher straffen, aber grundsätzlich halte ich es für sinnvoll, dass im Rahmen von Planungsprozessen, zum Beispiel bei der Aufstellung von Bebauungsplänen, die Bürger beteiligt werden, und auch Kommunen bei kontroversen Projekten frühzeitig den Dialog mit den Bürgern suchen. Denn diese verfügen oft über besondere Ortskenntnisse, und wenn sie sich bei Fachfragen fachliche Unterstützung holen, werden vor allem größere Projekte am Ende oft besser.

Es sind ja nicht nur die Großprojekte, sondern oft auch kleinere Bauvorhaben, gegen die sich Bürger mit Klagen zur Wehr setzen.

Immer häufiger ist dafür die Nachverdichtung die Ursache. Sie ist vom Baugesetzbuch vorgeschrieben und soll ermöglichen, dass sich Orte nachhaltig entwickeln können, der Flächenverbrauch reduziert und vorhandene, bereits bebaute Flächen effizienter genutzt werden. Die Nachverdichtung führt also zu statistisch mehr Menschen pro Quadratmeter Fläche. Gerade auf dem Land kann sich dadurch der Charakter der Wohngebiete verändern. Beispielsweise wenn in einer Siedlung, die bisher von Einfamilienhäusern oder Villen geprägt war, plötzlich Mehrfamilienhäuser gebaut werden sollen. Das kann zu Spannungen und damit auch zu Klagen führen.

Wer kann gegen ein Bauvorhaben in seiner Nachbarschaft klagen?

Gegen eine Baugenehmigung können alle Nachbarn vorgehen, die von einem Bauvorhaben potenziell betroffen sind. Dabei ist die Definition des „Nachbarn“ davon abhängig, welche Auswirkungen ein konkretes Bauvorhaben auf seine Umgebung haben kann. Bei kleinen Bauvorhaben sind es meist Themen wie Abstandsflächen, die die unmittelbaren Grundstücksanlieger betreffen. Geht es aber beispielsweise um eine große gewerbliche Anlage mit entsprechenden Emissionen, dann können theoretisch viele Nachbarn betroffen sein.

Wird zu oft geklagt?

Bundesweit sind nur knapp 17 Prozent der verwaltungsgerichtlichen Klagen erfolgreich. Soweit ernsthafte rechtliche Bedenken bestehen, ist eine Klage immer legitim, auch wenn sie am Ende erfolglos ist. Aber ein Teil der Klagen ist einfach unnötig, weil sie von vornherein keinen Erfolg versprechen. Eine Nachbarklage hat beispielsweise nur dann Erfolg, wenn die Baugenehmigung gegen nachbarschützende Vorschriften verstößt, den Nachbarn also in seinen Rechten verletzt. Immer wieder werden Klagen erhoben, obwohl eigentlich offensichtlich ist, dass Nachbarrechte nicht verletzt sind. So ist beispielsweise die Aussicht auf die Berge rechtlich nicht geschützt. Manchmal kommen die Leute auch so spät zum Anwalt, dass zur Fristwahrung Klage erhoben werden muss. Denn mit der Zustellung der Baugenehmigung beginnt die einmonatige Klagefrist. Es gibt kein Widerspruchsverfahren mehr. Das einzige Rechtsmittel ist eine Klage.

Wie lange dauern Verfahren?

Das Problem ist, dass die Verwaltungsgerichte völlig überlastet sind. Heute dauern daher die Verfahren viel länger als früher. In erster Instanz ist für öffentlich-rechtliche Bausachen im Landkreis Rosenheim die erste Kammer beim Verwaltungsgericht München zuständig. Es gab Zeiten, da war die mündliche Verhandlung innerhalb von vier bis sechs Monaten. Heute sind wir bei drei bis vier Jahren für die erste Instanz. Viele Projekte, für die die Behörde eine Genehmigung nicht erteilt, sterben, weil weder Zeit noch Geld da ist, so lange auf Erteilung einer Baugenehmigung zu klagen.

Mit einer Klage gewinnt der Gegner eines Projektes aber Zeit. Was sind die Folgen?

Ist eine Baugenehmigung erteilt, aber noch nicht bestandskräftig, muss sich der Bauherr entscheiden. Da Klagen gegen Baugenehmigungen keine aufschiebende Wirkung haben, kann man davon Gebrauch machen und bauen, obwohl Klage erhoben wurde. Eine Privatperson, die ein Einfamilienhaus baut, muss sich entscheiden, ob sie dieses Risiko eingehen will. Ein Bauträger wiederum baut, um die Wohnungen zu verkaufen. Niemand möchte eine Wohnung kaufen, bei der noch ein Gerichtsverfahren anhängig ist.

Welche Folgen haben die langen Verfahrensdauern für die Funktionsfähigkeit des Staates?

Die Funktionsfähigkeit des Staates ist meines Erachtens im Moment nicht in vollem Umfang gegeben. Wir haben an allen Ecken und Enden Probleme. Das sehen wir bei den großen Dingen, wie zum Beispiel der Verteidigungsfähigkeit, aber eben auch bei den kleinen Dingen im Baurecht. Das reicht vom Personalmangel bei Kommunen bis zur langen Verfahrensdauer bei den Gerichten. Alles zieht sich hin. Projekte brauchen oft ewig, bis sie genehmigt und umgesetzt sind. Ich glaube, dass wir an der Stelle etwas verändern müssen.

Wo sehen Sie eine Lösung?

Hier sind alle gefragt. Politik und Gesetzgeber, Behörden, aber auch jeder Einzelne. In gesellschaftlichen Umwälzungsprozessen brauchen wir Veränderung, damit alles wieder besser funktioniert. Das bedeutet für den Einzelnen, demokratische Veränderungsprozesse mitzutragen, aber auch manchmal ganz konkret, sich ehrlich zu fragen, ob man gegen ein Projekt vorgehen will. Hat man tatsächlich ein rechtliches Anliegen oder geht es um „Not in my backyard“, also darum, dass man bestimmte Entwicklungen zwar prinzipiell gut findet, aber bitte nicht in der eigenen Nachbarschaft.

Wie kann der Staat wieder besser funktionieren?

Wenn wir den Staat wieder voll funktionstüchtig machen wollen, brauchen wir meines Erachtens vor allem zeitgemäße und bessere Gesetze, das heißt, Gesetze, die klar strukturiert und formuliert sind und damit weniger Raum für Streitigkeiten bieten. Dazu gehört es auch, „alte Zöpfe über Bord zu schmeißen“, auch wenn man das „schon immer so gemacht hat“. Wenn die gesetzlichen Regelungen zeitgemäßer und besser sind, gibt es auch weniger Bürokratie. Eine Behörde kann immer nur so gut sein, wie die Gesetze, die sie anwenden muss.

Interview: Kathrin Gerlach

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