TH will Sorgenetzwerk aufbauen

von Redaktion

Rosenheim/Schechen – Die meisten Menschen wünschen sich, zu Hause in gewohnter Umgebung und im Kreis der Liebsten alt zu werden. Ein Großteil pflegebedürftiger Senioren wird daheim von Angehörigen versorgt. Ende 2023 gab es in Deutschland rund fünf Millionen ältere Menschen mit Pflegebedarf. Etwa 80 Prozent davon wurden zu Hause gepflegt, meist von nur einer Person. Diese Konstellation birgt ein Risiko: Fällt die Pflegekraft aus, etwa durch Krankheit oder Unfall, was passiert dann mit der gepflegten Person?

„Ich war schockiert, als ich das gehört habe“, meint Stefan Adam, Bürgermeister der Gemeinde Schechen. „In der Landwirtschaft käme ein Betriebshelfer, wenn der Bauer ausfällt. In der Pflege gibt es ähnliche Angebote nicht.“

Kein klares
Vorgehen

Dann kann es zu akuter pflegerischer Unterversorgung kommen, für die es kein klares Vorgehen gibt. „Meist kommt eine zu pflegende Person dann ins Krankenhaus“, berichtet Katharina Lüftl, Professorin für Pflegewissenschaft an der TH Rosenheim, obwohl die Person nicht krank, sondern nur alt ist. Medizinische Versorgung ist nicht notwendig, aber pflegerische Unterstützung, für die eine Klinik nicht ausgelegt ist. Das Krankenhaus ist ein ungeeignetes Umfeld für Menschen mit Pflegebedarf, die vielleicht auch an Demenz leiden und von Stress und fremder Umgebung überfordert sein können. Außerdem belegt diese Person ein Krankenhausbett, das eventuell dringend anderweitig benötigt wird.

Andere Mechanismen greifen nicht. Pflegedienste oder Kurzzeitpflege haben meist knappe Ressourcen und können nicht kurzfristig einspringen. Notfallseelsorge oder Krisenintervention können nur wenige Stunden überbrücken.

Diese Versorgungslücke will ein Projekt der TH Rosenheim mit Partnern aus Stadt und Landkreis Rosenheim schließen. Die Idee von Prev-It: Geschulte regionale Pflegeberater leiten pflegende Angehörige an, ein eigenes Sorgenetzwerk aufzubauen. Ergänzend wird in zwei Modellregionen – Rosenheimer Lessingstraße und Gemeinde Schechen – eine Community Health Nurse eingesetzt, die vor Ort berät. Sie basiert auf dem Konzept der Gemeindeschwester. „Es soll gar nicht erst zur Akutsituation kommen“, erklärt Albert Kreilinger, TH-Mitarbeiter und Community Health Nurse.

Die Idee für ein solches Projekt gibt es in der Region Rosenheim schon länger. Klaus Grandl, Leiter des städtischen Sozialamts Rosenheim, berichtet, dass sich 2023 erstmals ein runder Tisch zum Thema „Alterswohlgefährdung“ traf. Problematisch waren unklare Zuständigkeiten: Krankenkassen, Pflegekassen, Sozialämter oder der Bezirk? „Daher wandten wir uns an die TH, um wissenschaftliches Licht ins Dunkel zu bringen“, so Grandl.

TH-Studienassistentin Melina Zaglacher gewann mit einer Kollegin bei einem Ideenwettbewerb Mittel für das Vorhaben. Eine Studie soll eine Datengrundlage erheben, ein praktikables Schulungskonzept für Pflegeberater erarbeiten und eine Koordinationsstelle einrichten.

„Wir möchten mit Angehörigen und Pflegebedürftigen ein individuelles Versorgungsnetzwerk aufbauen, das Angehörige entlastet und greift, wenn die Pflegeperson ausfällt“, erklärt Christina Heldt, wissenschaftliche Mitarbeiterin. Das Projekt ist in der Pilotierungsphase. Schulungen und Beratungen stehen bevor. „Es muss praxistauglich und akzeptiert sein“, betont Stefanie Skudlik, Koordinatorin des Forschungsschwerpunkts „Participate“ zu Projekten der Pflegebedürftigkeit.

Das ist die größte Herausforderung. „Viele schieben das Thema Pflege auf, als sei es ein Stigma“, weiß Lüftl. Zudem ist Pflege durch Angehörige in vielen Familien ein ungeschriebenes Gesetz. Dann ist es undenkbar, „Fremde“ um Unterstützung zu bitten. „Da lastet viel auf den Schultern pflegender Angehöriger“, so die Professorin. Die Aufgabe ist es, Zugang zu Betroffenen zu finden. Man muss aktiv auf die Menschen zugehen, braucht einen Türöffner.

Daher sind die Modellregionen wichtig, um in sozialen Strukturen arbeiten zu können. Pflegeberater und die Community Health Nurse wollen etwa über lokale Veranstaltungen wie Seniorennachmittage Präsenz zeigen. Interessierte werden in persönlichen Gesprächen angeleitet, ihr Pflege-Hilfe-Netzwerk aufzubauen. „Jede Situation muss individuell erfasst werden“, so Kreilinger.

Das persönliche Pflege-Netzwerk kann Familienmitglieder, Freunde, Ehrenamtliche oder professionelle Pflegende umfassen. Eine neue Pflegesituation muss sich langsam und behutsam entwickeln.

Modellregionen
ausgewählt

Als Modellregionen wurden Schechen (ländlich) und die Lessingstraße (städtisch) ausgewählt. Die Ergebnisse sollen dem gesamten Landkreis nützen. „Im Gegensatz zur Stadt Rosenheim können wir nicht direkt eingreifen, sondern unsere landkreiseigenen Gemeinden nur beraten“, erklärt Matthias Serwach, Leiter des Sachgebiets soziale Angelegenheiten im Landratsamt. Neben der Unterstützung Pflegender in der Region hoffen die Projektverantwortlichen, ein neues gesellschaftliches Bewusstsein anzustoßen.

Teilnehmer für Beratungen gesucht

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