Kolbermoor – Ein braunes Klavier steht an der Wand. Darauf stehen zwei kleine Kakteen. Sechs Stühle sind in der Mitte des Raums zu einem Kreis aufgestellt. Mittendrin ist ein kleiner Holztisch. Die Terrassentür ist weit geöffnet. Draußen fahren Autos vorbei. Vögel zwitschern. Doch im Raum ist es noch still. Vier Frauen sitzen bereits auf den Stühlen. Sie warten darauf, dass es losgeht. Sie wollen erzählen, wie ihr Monat war. Wie sie ihr Leben mit Post Covid bestreiten. Dafür sind sie hier. In der Selbsthilfegruppe im Bürgerhaus Kolbermoor.
Ein leiser Gong ertönt. Die Teilnehmer werden von der Initiatorin der Selbsthilfegruppe „Gemeinsam statt einsam – Raus aus dem Post-Covid-Strudel“, Kerstin Wanitschek, eingeladen, sich zu entspannen und tief ein und wieder auszuatmen, um ganz in der Gruppe anzukommen. Dann will sie von den drei Frauen wissen, wie es ihnen seit dem letzten Treffen ergangen ist. Dabei sollen drei gelbe Bälle helfen. Auf jedem von ihnen ist jeweils ein Smiley mit unterschiedlichen Emotionen abgebildet. Einer ist glücklich, einer ist traurig und einer schaut neutral.
Nervenschmerzen
als täglicher Begleiter
Eine Mutter einer elfjährigen Tochter nimmt den glücklichen und den neutralen Smiley-Ball in die Hand. „Ich bin glücklich, weil ich am Freitag Geburtstag hatte und eine wirklich schöne Feier hatte“, erzählt sie. Für sie bedeutet das sehr viel. Denn seit zweieinhalb Jahren leidet sie an Post Covid. Nervenschmerzen sind seitdem ihr täglicher Begleiter. „Es ist ein brennender Schmerz, als ob unter meiner Haut alles in Flammen steht“, versucht sie zu erklären.
Ein andauernder Erschöpfungszustand
Auch die Handgelenke bereiten ihr viele Schmerzen. Schlafstörungen kämen noch obendrauf. „Nur Kopfschmerzen habe ich zum Glück keine“, sagt sie munter und lacht. Dass sie ihren Geburtstag mit Freunden feiern konnte, sei etwas Besonderes. Denn die „Dauerschmerzen“ machen der Mutter schnell zu schaffen. Erschöpfung ist an der Tagesordnung. „Aber ich habe ganz tolle Freunde um mich, die mich aufbauen und mich tragen“, sagt sie. Das sei bei dieser Erkrankung wichtig. Denn Verständnis dafür gebe es noch viel zu wenig.
Das musste auch eine andere Teilnehmerin erst kürzlich wieder erfahren. Eine blonde Frau im schwarzen Rock hat, so erzählt sie, nach der Corona-Impfung einen „Herzschaden“ erlitten. Im Dezember 2021 sei das gewesen. Die Symptome, die sie seitdem hat? „Ich habe eigentlich alles mitgenommen, was man kriegen kann. Außer, dass ich nicht gestorben bin“, sagt sie. Das müsse man so sagen.
Denn leicht sei das Leben mit Post Covid nicht. Vor allem nicht am Anfang. Der ganze Körper schmerze, das Atmen falle ihr schwer, das Herz mache Probleme. Auch das Sprechen falle ihr immer wieder schwer. Und die Liste gehe noch weiter.
„Er sagte mir, dass es Long Covid nicht gibt“
All das sorgt dafür, dass die Frau nicht mehr arbeiten gehen kann. Eine Situation, die viele aus der Selbsthilfegruppe kennen.
Einige von ihnen bekommen mittlerweile die Erwerbsminderungsrente. Diese wollte die Frau im schwarzen Rock ebenfalls beantragen. Dafür musste sie mit einem Gutachter sprechen. „Er sagte mir, dass es Long Covid nicht gibt und alles nur Einbildung sei“, erzählt sie. Am Ende des Gesprächs habe sie zwar den Antrag stellen können, aber dieser Moment habe gezeigt, dass es manchmal noch an Verständnis für diese Krankheit fehlt.
„Neben all dem fehlenden Verständnis gibt es dennoch auch zahlreiche Erfahrungsberichte, die davon handeln, wie bemüht viele Ärzte sind, zu helfen und über den Tellerrand hinauszusehen“, schaltet sich die Initiatorin der Selbsthilfegruppe Kerstin Wanitschek, selbst Post-Covid-Erkrankte, ein. Dennoch haben viele der Teilnehmer auch außerhalb eines Ärztezimmers erlebt, dass sie als „Simulanten“ abgestempelt werden. Einige bekommen auch Sätze zu hören, wie: „Stell dich nicht so an!“ Oder: „Du siehst doch gut aus, so schlimm kann es also nicht sein.“
Was viele Menschen aber nicht wüssten, ist, dass sich die Krankheit sehr unterschiedlich äußert, erklärt Wanitschek. Sie sei so individuell wie die Menschen selbst. „Die Erschöpfung zum Beispiel, die mit der Krankheit oft einhergeht, sieht man uns oft von außen nicht an. Denn wir gehen eigentlich nicht raus, wenn es uns zu schlecht geht“, sagt sie. Zum einen, weil es körperlich einfach nicht gehe und zum anderen wolle man „nicht die Kranke sein“. Dass sich die Teilnehmer der Selbsthilfegruppe entschieden haben, offen über ihre Erkrankung zu sprechen, hat unter anderem den Grund, dass sie ein besseres Verständnis schaffen wollen.
„Wenn wir uns allen untereinander bewusst mehr zuhören und offener begegnen würden, würden wir uns alle auch besser verstehen und annehmen können“, betont Wanitschek. Druck und Stress auf einen Post-Covid-Patienten auszuüben, sei niemals hilfreich. „Wir brauchen Zeit für unsere Genesung. Je langsamer wir es angehen, desto besser geht es uns“, so die Initiatorin der Gruppe.
Ein Abschied
vom alten Leben
Die Rosenheimerin ist selbst im November 2021 an einer Corona-Infektion erkrankt. Auch sie kämpft bis heute mit den Folgen. „Wenn zu viele Reize auf einmal auf mich zukommen, dann fühlt es sich irgendwann so an, als ob ich gegen eine Wand renne“, sagt sie. Vielleicht wird es kein Leben mehr ohne diese Erkrankung geben. Doch damit kommt sie mittlerweile klar. „Man muss sich von seinem alten Leben verabschieden, das man vorher hatte“, sagt Wanitschek. „Damit Raum für ein neues Leben entstehen kann, welches nun anders aufgebaut und gelebt werden darf als vorher. Wie dieses dann bewertet wird, liegt in der Hand jedes Einzelnen. Jedoch kann auch solch ein Neustart zu einem guten Leben werden. Dies ist ein Prozess, indem wir uns alle befinden.“
Die Krankheit, so sagt sie, habe für sie auch etwas Positives. Wanitschek ist mehr bei sich und hört auf ihren Körper. „Unser Körper hat die Jahre davor immer sehr viel Leistung erbringen und immer funktionieren müssen. Jetzt sind wir an der Reihe, uns um unseren Körper zu kümmern und mit ihm als Teampartner gemeinsam zu gehen, statt gegen ihn.“ Das ist etwas, was sie auch den Teilnehmern der Selbsthilfegruppe mit auf den Weg geben will. Und dazu zählen mittlerweile 43 Teilnehmer aus dem gesamten Landkreis Rosenheim.
Nicht alle können immer an den Treffen teilnehmen. Aber dafür gibt es Whatsapp-Gruppen. Hier tauschen sich die Betroffenen über die neuesten Studien, Behandlungsmöglichkeiten oder Anlaufstellen aus. Einer, der das zu schätzen weiß, ist Dominik P. aus Kolbermoor. Der 32-Jährige ist zwar nicht bei der Sitzung dabei, will aber gerne seine Sichtweise teilen. Er ist Anfang 2022 erkrankt. Für ihn ist der Austausch in der Whatsapp-Gruppe besonders hilfreich.
„Es ist immer sehr interessant zu erfahren, was andere bereits alles an Untersuchungen, Behandlungen und Bürokratiewahnsinn erlebt haben“, sagt er. Durch den Austausch lerne man, mit der eigenen Erkrankung besser umzugehen. Er sei dadurch auch selbstbewusster geworden. „Es lässt mich auch hoffen, dass es in Zukunft Medikamente und Therapien zur Linderung der Symptome geben wird.“
Lernen, mit der Krankheit zu leben
Allen Teilnehmern ist es wichtig, klarzumachen, was hinter der Kolbermoorer Selbsthilfegruppe wirklich steckt. „Es ist nicht so, dass wir uns treffen, um uns gegenseitig vorzujammern, wie schlecht es uns geht – ganz im Gegenteil“, so Dominik P. Man lerne, miteinander mit der Krankheit zu leben, man baue neue Kontakte auf und könne offen über seine Gefühle sprechen, ohne sich erklären zu müssen. Denn man sei an einem Ort des Vertrauens mit „Gleicherkrankten“. Für alle Beteiligten sei die Selbsthilfegruppe zum richtigen Zeitpunkt gekommen. Zu verdanken habe man das Kerstin Wanitschek.
Vor zwei Jahren hat sie sich zu diesem Schritt entschlossen und ihn nie bereut. „Mir ist es wichtig, Betroffenen den Mut zuzusprechen, sich selbst in ihrer Situation, mit all ihren Befindlichkeiten, ernstzunehmen, und aufzuzeigen, dass es eine mögliche Unterstützungsform sein kann, eine Selbsthilfegruppe zu nutzen“, sagt sie. „Die Gesellschaft mag das vielleicht als Schwäche sehen. Doch es ist eine Stärke, sich Unterstützung jeglicher Art zu holen, damit es einem besser geht. Und gemeinsam geht es sich leichter.“