Flintsbach – Das Inntal ist faszinierend schön, aber auch unberechenbar gefährlich. Extreme Wetterlagen wie im Juni 2024 zeigen, dass sich die Natur nicht bändigen lässt, sich Wildbäche in reißende Fluten verwandeln können und aus einem großen Einzugsgebiet am Berg das Wasser und Geröll über die steilen Hänge ins Tal schwemmen. Die Gefahr von Erdrutschen ist latent.
Wildbäche werden seit mehr als 100 Jahren „gezähmt“
„Deshalb hat die Verbauung der Wildbäche in den alpinen Regionen Bayerns früh begonnen, schon nach dem Bergsturz am Schrofen bei Brannenburg im August 1851“, erklärt Dr. Tobias Hafner, Leiter des Wasserwirtschaftsamtes Rosenheim.
Erste Holzschwellen, Steinsperren und Uferschutzbauten wurden errichtet, und viele der inzwischen über 100-jährigen Bauwerke gibt es heute noch. „Manche sieht man gar nicht mehr, weil die Natur sie wie alte Maya-Tempel überwuchert hat“, beschreibt Hafner.
Die wichtigsten Schutzbauwerke dagegen sind nicht zu übersehen. Sie wurden über die Jahrzehnte immer wieder saniert. Oberhalb von Flintsbach sind das zwei große Rückhaltebecken und ein Konsolidierungsbauwerk.
Sie haben am 3. Juni 2024 verhindert, dass Flintsbach von Wasser- und Geröllmassen verschüttet wurde. Denn auch wenn Mai- und Riesengraben im Ort als kleiner Gebirgsbach ankommen: „Oben am Berg spielen sie mit großen Instrumenten“, erklärt Thomas Brandner, Sachgebietsleiter Wasserbau am Wasserwirtschaftsamt.
„Vor einem Jahr waren alle Rückhaltebecken randvoll, aber sie haben funktioniert“, macht er klar. Seitdem wurden tonnenweise Schlamm und Geröll aus den Geschiebesperren entfernt, um ihre Schutzfunktion schnellstens wiederherzustellen. Und die Arbeiten sind noch immer im Gange.
Die große Kaskadensperre im Maigraben wurde 2022 aufwendig saniert. Da sie sich in einem unzugänglichen Gebiet befindet, mussten Baumaterialien und -maschinen mit dem Hubschrauber eingeflogen werden. Damals wurde die Sperre mit Netzen und Verpressankern stabilisiert. Am 3. Juni hat sie etwa 700 Kubikmeter Geröll und Wasser auf ihrem Weg ins Tal zurückgehalten.
Weiter östlich kommt der Riesengraben ins Tal. „Er ist murfähig“, sagt Brandner. Im Juni 2024 ist an seinem Oberlauf eine Mure abgegangen. Die Sperre aus dem Jahre 1928 hat sie abgefangen. Damit Geröll und Schlamm überhaupt geräumt werden konnten, musste eine Zufahrt für Lkw geschaffen werden.
Weitere 1000 Kubikmeter Erdmaterial müssen aus dem Becken raus, um das Bauwerk sanieren zu können. „Die Staumauer wurde zwischen Felswänden gebaut und in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder erhöht, um das Stauvolumen zu vergrößern“, beschreibt Brandner. Nun soll sie neu verankert werden.
Im Moment ist der Riesengraben trocken. Nur der Maigraben plätschert als romantischer Wasserfall ins Tal und passiert dabei viele fast unscheinbare Hochwasserschutz-Bausteine: Ein Wildholznetz, Konsolidierungssperren, die Böschungen und Bachbett vor Erosionen sichern, und ein letztes großes Schutzbauwerk vor der Ortschaft mit einem Rückhalt von 1000 Kubikmetern und einem Wildholzrechen.
Auch dieses Becken war randvoll. „Zum Glück wurde es 2014 saniert, sonst wäre es bei den Geröll- und Wassermassen vom Juni 2024 gebrochen“, macht Brandner klar.
Am 3. Juni 2024 hat sich eine gewaltige Niederschlagszelle in wenigen Stunden über der Region ergossen. Bernau, Aschau, Frasdorf, Achenmühle, Rohrdorf, Samerberg, Raubling, Riedering, Nußdorf, Brannenburg, Flintsbach und Bad Feilnbach wurden von einer Sturzflut und Flusshochwasser überschwemmt. „Im Bereich dieser Extremniederschlagszelle haben wir ungefähr 5000 Wildbachschutzbauwerke – von kleinen Konsolidierungsbauwerken über Kies- und Geschiebefänge bis hin zu Wildholzrechen“, umreißt Dr. Tobias Hafner die Dimension.
„All diese Schutzanlagen haben funktioniert, die Menschen geschützt und Schlimmeres verhindert.“ Seitdem wurden allein in die Räumung und Sanierung dieser Bauwerke etwa 3,5 Millionen Euro investiert. „Das Wichtigste aber ist die Expertise unserer Mitarbeiter, erfahrener Baufirmen und großartiger Baggerfahrer, die uns unermüdlich unterstützen“, sagt Hafner.
Auch die Schutzbauwerke am Hundsgraben oberhalb der Burg Falkenstein haben funktioniert und Schlimmeres verhindert. Auf seinem steilen Weg ins Tal quert der Wildbach die Forststraße zur Hohen Asten. Geschiebe und Schwemmholz hatten die Durchlässe verstopft. Deshalb brach der Wildbach etwa 50 Meter oberhalb der Burgruine aus und riss auf seinem Weg ins Tal Schotter, Erde und Verwitterungsschutt von den Hängen mit sich.
„Die Hangflanke war bis auf den nackten Fels abgespült“, beschreibt Brandner das Ausmaß der Erosion. Das Geschiebe hatte den Kiesfang – die Bogensperre direkt neben der Burg – bis an den Rand gefüllt. „Ihre Sohle steht im Fels. Sie war erst 2013 saniert worden, sonst hätte sie dieser Last nicht standgehalten“, ist Brandner überzeugt.
Die Flut bahnte sich ihren Weg über den Burghof. Die Burgmauer wirkte wie eine Staumauer und brach unter der Last aus Wasser, Schlamm, Geröll und Gehölz weg. Zum Glück ist ein Großteil des Gerölls auf dem Plateau der Burg liegengeblieben. Am Hang unterhalb der Burg kam es zu einer flächigen Erosion. Auch hier wurden die Hangflanken stellenweise bis auf den Fels weggespült.
Ein Jahr später sind die Spuren der Flut im Burghof noch immer zu sehen. Der Hundsgraben hatte sich tief ins Gelände eingegraben. Auch wenn der Wildbach heute wieder arglos dahinplätschert. Seinen wilden Tanz durch die Burg vom 3. Juni 2024 hat er mit Geröll markiert.
Wunden am Hang
oberhalb der Burg
sind verheilt
Die Wunden am Hang oberhalb der Burg sind inzwischen verheilt. „Wir haben gemeinsam mit der Gemeinde, dem Forstbetrieb und den Grundstückseigentümern den Hang stabilisiert und den Weg zur Hohen Asten wieder hergestellt“, informiert Thomas Brandner. Eine Natursteinmauer wurde auf felsigem Untergrund gebaut und stützt den Weg. Dutzende Konsolidierungsbauwerke am Lauf des Hundsgrabens wurden repariert. Bis weit hinauf in sein Einzugsgebiet.
Einen 100-prozentigen Schutz gibt es trotzdem nicht: Auch wenn in Bayern etwa 1500 Kilometer Wildbäche verbaut und Siedlungsbereiche mit etwa 50000 Schutzbauwerken gesichert sind. Wirklich zähmen lassen sich alpine Naturgewalten nicht.