Bad Aibling/Miesbach – Experten haben die sogenannte Ewigkeits-Chemikalie Trifluoracetat (TFA) schon lange im Visier. Sie kann mit herkömmlichen Methoden nicht aus dem Wasser herausgefiltert werden und steht im Verdacht, unter anderem negative Auswirkungen auf die menschliche Fortpflanzungsfähigkeit zu haben. Der Holzkirchner Bundestagsabgeordnete Karl Bär (Grüne) hat nach eigenen Angaben Mitte März sechs Wasserproben genommen. Vier davon stammen aus dem Landkreis Miesbach – aus dem Holzkirchner und Miesbacher Leitungswasser sowie aus der Mangfall bei Louisenthal und aus dem Tegernsee. Laut Bär fand sich in allen Proben TFA – „klar über dem in der EU diskutierten Grenzwert.“ Trifluoracetat oder Trifluoressigsäure entsteht als Abbauprodukt vieler Substanzen wie Pestizide und Kühlmittel.
In Flüsse und Seen gelangt es durch Abwasser, das Umweltbundesamt spricht von einem „sehr mobilen und persistenten Stoff.“ TFA verbreite sich rasant und reichere sich in der Umwelt an. Für die Chemikalie in Oberflächengewässern, im Grund- und Trinkwasser gibt es keinen EU-weit harmonisierten Grenzwert. Das Umweltamt hat aber einen Leitwert von 60 Mikrogramm pro Liter als „toxikologisch tolerierbare Konzentration“ für Trinkwasser festgelegt. Bis zu diesem Wert wird derzeit davon ausgegangen, dass es nicht gesundheitsschädlich ist. Bär hält dagegen, dass TFA „das Kind im Mutterleib schädigen kann.“ Tierversuche der Firma Bayer hätten gezeigt, dass schon geringe Mengen bei Nachkommen Leber- und Augenschäden verursachen würden.
Der Grünen-Politiker bilanziert in einer Mitteilung: „Alle untersuchten Proben lagen mit Werten zwischen 0,46 und 0,78 Mikrogramm pro Liter klar über dem Grenzwert von 0,1 Mikrogramm pro Liter, der derzeit auf EU-Ebene diskutiert wird.“ In Holzkirchen liege die TFA-Konzentration bei 0,46 Mikrogramm pro Liter, in Miesbach bei 0,78, im Tegernsee bei 0,65 und in der Mangfall bei 0,56.
Für Bär ist „brisant“: „Rund um den Tegernsee oder an der Isar gibt es keine Chemieindustrie und kaum Pestizideinsätze. Dass TFA hier gefunden wird, zeigt, wie weit sich die Chemikalie über den Wasserkreislauf verbreitet.“ Die farb- und geruchslose Substanz „reichert sich im Grundwasser an und lässt sich kaum entfernen“, warnt Bär. Trotzdem seien in Deutschland 29 Pestizidwirkstoffe zugelassen, die zu TFA zerfallen. Das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit müsse diese Zulassungen „endlich widerrufen.“ Alle Pestizide, die zu TFA zerfallen, „müssen ihre Zulassung verlieren. Bundeslandwirtschaftsminister Alois Rainer (CSU) muss dafür die Verantwortung übernehmen.“
Mitgewirkt hat bei der Untersuchung der Miesbacher Chemiker Dr. Michael Ostertag. Er stellte die Probe aus Miesbach bereit. Ursprünglich auf der Suche nach per- und polyfluorierte Alkylverbindungen (PFAS), stellte sich heraus, dass die PFAS-Werte zwar unter der Nachweisgrenze liegen, dafür aber deren Abbauprodukt TFA mit einem „recht hohen Wert“ auftauchen, wie Ostertag einordnet.
Die Reproduktionsschädlichkeit am Menschen sei zwar nicht erwiesen, Ostertag hofft aber auf eine Diskussion. „Vieles hängt am sauberen Wasser.“
Einmal eingetragen – und sei es durch Pestizide, die in Südamerika versprüht werden, – könne man fast nichts mehr dagegen tun. Die einzige Möglichkeit sei es, die Substanz gar nicht erst in Umlauf zu bringen. „Man hätte einfach die Finger lassen sollen von perfluorierten Substanzen“, sagt Ostertag.
Auch bei einer möglichen Absenkung des Grenzwerts durch die EU wären Wasserwerke machtlos – sie könnten die Werte schlicht nicht einhalten. Das bestätigt auch das Landratsamt nach Abstimmung mit dem Wasserwirtschaftsamt Rosenheim auf Anfrage: „Sollte die EU TFA künftig tatsächlich als fortpflanzungsschädlich einstufen und in der Folge einen Grenzwert von 0,1 Mikrogramm pro Liter im Trinkwasser festlegen, hätte dies massive Auswirkungen auf die Wasserversorgung, nicht nur im Landkreis Miesbach, sondern bundesweit.“ Im hypothetischen Worst-Case-Szenario, den das Landratsamt für unwahrscheinlich hält, – also die Einführung eines sehr niedrigen Grenzwerts ohne verfügbare Aufbereitungstechnologien – könne es notwendig werden, auf Ersatztrinkwasserversorgungen in größerem Umfang umzusteigen.
Es bleibe aber abzuwarten, wie sich die wissenschaftliche Bewertung und die politische Entscheidungsfindung entwickle. Weil es bisher nur den Leitwert von 60 Mikrogramm und einen Vorsorgewert von zehn Mikrogramm gebe – keine regulatorischen Vorgaben – bestehe kein akuter Handlungsdruck.
Die Frage, ob die nun gemessenen Werte als „problematisch“ einzustufen sind, lasse sich wegen der noch fehlenden wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht seriös beurteilen. Grundsätzlich decken sie sich laut Landratsamt mit bekannten Daten des Landesamts für Umwelt (LfU), das in 60 Fließgewässern und 275 Grundwassermessstellen in Bayern seit dem Jahr 2017 Werte zwischen 0,5 bis zwei Mikrogramm pro Liter gemessen habe; die Zahlen liegen also „im Rahmen der bislang bekannten Belastungssituation.“
Das Landratsamt bilanziert die Lage wie folgt: „Solange die wissenschaftliche Datenlage so unvollständig ist und die gemessenen Werte im bekannten Hintergrundbereich liegen, sehen wir aktuell keine unmittelbare Gefährdungslage, betonen aber zugleich die Notwendigkeit einer fortlaufenden Beobachtung und Bewertung.“Jonas Napiletzki