„Aufstehen gegen Gewalt auch bei uns“

von Redaktion

Heute Radtour und Mahnwache in Bad Aibling am Marienplatz

Bad Aibling – „Jeden Tag erleben FLINTA* (Frauen, Lesben, InterPersonen, Nicht-binärePersonen, TransPersonen und AgenderPersonen, das Sternchen für weitere Geschlechteridentitäten, Anm. d. Red.) in Deutschland Gewalt“, erklärt Carlotta Wittenberg aus Rosenheim. „2023 gab es laut BKA 938 versuchte oder vollendete Femizide – das entspricht fast einem Angriff täglich, jeder dritte tödlich. Diese Gewalt passiert nicht irgendwo weit weg, sondern auch hier in der Region“, sagt die engagierte Frau. Um der Opfer zu gedenken und auf das Thema aufmerksam zu machen, organisiert sie für den heutigen Montag eine Radtour von Rosenheim nach Bad Aibling und dort am Marienplatz eine stille Mahnwache.

Frau Wittenberg, was waren Ihre Beweggründe für die heutige Aktion?

Ich möchte mit der Mahnwache ein Zeichen setzen – für Sichtbarkeit, für Gedenken und gegen das Schweigen. Gewalt gegen Frauen ist kein Randphänomen, sondern ein tief verwurzeltes gesellschaftliches Problem. Mit der Radtour will ich bewusst mehr Menschen erreichen und gleichzeitig an die feministische Geschichte anknüpfen, in der das Fahrrad schon immer ein Symbol für weibliche Selbstbestimmung war. Susan B. Anthony sagte einmal: „Das Fahrrad hat mehr für die Emanzipation der Frauen getan als die Frauenbewegung.“ Für mich ist das ein aktiver, gemeinschaftlicher Weg: Wir sind sichtbar, wir bewegen uns durch öffentlichen Raum, wir haben Gelegenheit, miteinander ins Gespräch zu kommen – und tragen das Anliegen gemeinsam weiter. Ich organisiere das alleine, aber ich hoffe, dass viele mitfahren – für die, die keine Stimme mehr haben.

Warum ist Ihnen dieses Thema so wichtig?

Ich war selbst stark in patriarchale Strukturen eingebunden – im Alltag, in Beziehungen, im Umfeld. Was das bedeutet, habe ich erst im Laufe der Zeit wirklich verstanden. Gewalt gegen Frauen und FLINTA*-Personen hat viele Gesichter – sie beginnt mit Abwertung und Kontrolle und kann bis hin zu psychischer und körperlicher Gewalt führen. Die sogenannte Gewaltpyramide beschreibt das sehr treffend.

Wie sind Sie selbst damit umgegangen?

Ich habe mir Hilfe geholt – bei einer spezialisierten Frauenberatungsstelle, die mir auch therapeutische Unterstützung vermittelt hat. Das hat mir ermöglicht, Muster zu erkennen und zu durchbrechen. Nicht jeder schafft diesen Schritt. Eine Freundin von mir war in einer sehr ähnlichen Situation. Sie hat es nicht überlebt – sie wurde ermordet. Das ist fast 15 Jahre her, aber es begleitet mich bis heute.

Und deshalb bleiben Sie nicht tatenlos.

Ich habe gelernt, nicht nur für mich selbst einzustehen, sondern auch für andere: Wenn ich sehe, dass jemand bedrängt wird – sei es körperlich oder verbal – kann ich heute eingreifen, Hilfe holen, dazwischengehen. Immer mit dem Bewusstsein: Wir FLINTA*-Personen müssen oft schon in Sekunden abwägen, wie wir uns verhalten, um sicher aus einer Situation herauszukommen. Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der niemand mehr das durchleben muss, was so viele erleben – oft im Stillen. Mein Antrieb ist es, etwas zu verändern. Für meine Kinder, meine Freundinnen und Freunde, für alle Menschen, die ein sicheres Leben verdienen.

Mit wie vielen Teilnehmenden rechnen Sie bei der Radltour?

Ich rechne aktuell mit etwa 20 Teilnehmenden. Ich habe aber bewusst mehr Ordnerbinden vorbereitet – für den Fall, dass doch mehr Menschen kommen, vielleicht auch, weil der mutmaßliche Femizid in Bad Aibling einige wachgerüttelt hat. Leider beobachten wir oft eine gewisse Abwehrhaltung: „So etwas passiert nicht bei uns.“ Aber genau das ist Teil des Problems – dass Gewalt gegen Frauen als etwas „Fernes“ wahrgenommen wird. Dabei findet sie überall statt. Die Bewerbung war zeitlich etwas knapp, aber ich habe in den letzten Tagen viele Stunden investiert, um Menschen, Organisationen und auch Parteien einzuladen.

Ihre Aktion steht also auch im Zusammenhang mit dem Tötungsdelikt in Bad Aibling?

Leider ja. Als ich erfahren habe, was passiert ist, habe ich den Fall bei „Femizid Stoppen“ gemeldet. Kurz darauf kam die Anfrage, ob ich eine Mahnwache oder Ähnliches organisieren möchte. Mein erster Impuls war Nein – denn das Thema begleitet mich schon lange, unabhängig vom Ort. Gewalt gegen FLINTA*-Personen trifft uns alle. Sie macht nicht an Stadtgrenzen halt. Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen, und es gibt noch kein rechtskräftiges Urteil – aber der Verdacht liegt nahe, dass es sich um einen Femizid handelt. Und gerade weil das Thema für viele so „weit weg“ scheint, ist es umso wichtiger, es in solchen Momenten sichtbar zu machen, Bewusstsein zu schaffen und zu sensibilisieren. Denn: Femizide sind nur die Spitze des Eisbergs struktureller Gewalt. Aus meiner aktivistischen Erfahrung weiß ich: In Gesprächen sagen vor allem Männer oft, dass so etwas „zum Glück im eigenen Umfeld nicht vorkommt“. Wenn Partnerinnen dabei sind, schauen sie oft erschrocken – weil sie sehr wohl schon etwas erlebt oder mitbekommen haben. Deshalb habe ich auch für den 25. November – den Internationalen Tag gegen Gewalt an FLINTA* – eine Aktion ins Leben gerufen. Ich sammle unter dem Titel „Die Scham muss die Seite wechseln“ regionale Erlebnisse von FLINTA*-Personen, die patriarchale Gewalt erfahren haben. Dieses „Buch der Schande“ soll an verschiedenen Orten ausgestellt werden, begleitet von Awareness-Arbeit, Vorträgen und Workshops.

Warum, denken Sie, wird das Thema Gewalt gegen Frauen in der Gesellschaft oft totgeschwiegen?

Ein Grund ist sicher, dass viele dieser Taten im eigenen Zuhause passieren – in einem Raum, der als „privat“ gilt und in den andere ungern eingreifen. Was hinter verschlossenen Türen geschieht, bleibt oft unsichtbar. Hinzu kommt: Viele Betroffene erleben Schuld, Scham und Angst – und schweigen deshalb. Gleichzeitig fühlen sich Außenstehende oft hilflos. Und nicht zuletzt ist das Thema schlicht unbequem. Es stellt unsere Gesellschaft, unsere Strukturen und unser Verhalten infrage. Gewalt ist nicht abstrakt. Sie beginnt oft mit Erziehung und Sprachmustern. Hinzuhören, etwas zu sagen, fällt vielen schwer. Aber genau dort beginnt Veränderung. Und nein: Es ist nicht „so weit weg“. Es ist mitten unter uns.

Wie kann ich im Alltag Solidarität zeigen?

Im Alltag beginnt Solidarität oft mit den kleinen Momenten: Nicht wegschauen, wenn jemand bedrängt wird. Zuhören – und nicht relativieren. Fragen, wie man unterstützen kann, statt ungefragt zu bewerten. Gerade Männer können viel bewirken, wenn sie ihre privilegierte Position reflektieren und aktiv nutzen – zum Beispiel um in Gesprächen einzuhaken, wenn sexistische Sprüche fallen, oder Raum geben, wenn FLINTA*-Personen ihn gerade brauchen.

Auch Gewalt gegen Männer ist ein reales Thema, das strukturell anders funktioniert, aber ebenso ernst genommen werden muss, wenn wir echte Gleichberechtigung wollen.

Interview Eva Lagler

Ablauf von Radtour und Mahnwache

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