Aschau/Traunstein – Hinterher waren sich viele Beobachter im Großen Saal des Landgerichts Traunstein einigermaßen sicher: Diese belastende Aussage hatte Gewicht. Der Zeuge hatte keine Ausflüchte gezeigt, hatte den vernehmenden Beamten stets in die Augen geblickt und keine Fluchtpunkte in einer dunklen Ecke des Zimmers gesucht. Seine Sprache: ruhig, ohne größeres Stocken, erstaunlich gepflegt.
Kaum jemand verwendet den Konjunktiv bei indirekter Rede korrekt. Dem Untersuchungshäftling Adrian M. gelang das im Oktober 2023 im Prozess um den Tod von Hanna W. recht gut.
42 Seiten Papier lassen die Anklage in sich zusammenfallen
Seine Erinnerung hatte Lücken, freilich, mit einem Jahr Abstand kein Wunder. Doch machte er keinen Hehl daraus, er gab sie zu – „da kann ich mich ehrlich nicht mehr erinnern.“
Auch über seine Motivation äußerte er sich: Klar erhoffe er sich einen Deal, sagte Adrian M. aus. Es war vermutlich auch diese Offenheit, die Richterin Jacqueline Aßbichler und Staatsanwalt Wolfgang Fiedler an den Gehalt der Aussage glauben ließen. Und damit an die Schuld von Sebastian T.. Der habe ihm, das berichtete Adrian M. so, bei Kartenspiel und Spekulatius die Tat und auch die Absicht einer Vergewaltigung eingeräumt.
Nun, gut eineinhalb Jahre später, scheint klar: Der Mann hat wohl gelogen. Zumindest hält der Aussagepsychologe Professor Dr. Max Steller das für sehr wahrscheinlich. Und er hatte ein Motiv zum Lügen. Mit seinem Gutachten brachte Steller die Anklage gegen Sebastian T. im Fall Hanna zum Einsturz. Wie konnte ein Gutachten, wie konnten 42 Seiten einen Prozess von 35 Prozesstagen pulverisieren? Was ist überhaupt ein Aussagegutachten? Und wer ist der Gutachter? Das OVB gibt die Antworten.
Der Gutachter ist eine echte Größe in der Szene der Forensiker
Professor Dr. Max Steller ist einer der namhaftesten deutschen Experten, wenn es darum geht herauszufinden, ob Zeugen vor Gericht lügen. Er ist emeritierter Professor für forensische Psychologie an der Berliner Charité. Mit seinen Gutachten bringt er Täter hinter Gitter. Oder liefert Argumente für die Unschuld von Angeklagten. Und er hob, so sagen viele Ermittler, Forensiker und Prozessbeobachter, die Aussagepsychologie in Deutschland auf ein neues Niveau.
Steller will sein Gutachten für den Fall Hanna nicht kommentieren. „Es ist guter Brauch, dass gerichtlich bestellte Sachverständige sich vor Rechtskraft eines Urteils nicht öffentlich äußern“, antwortet er auf OVB-Anfrage. Worauf es ihm ankommt, kann man nachlesen (etwa im „Handbuch der Rechtspsychologie“, dessen Mitherausgeber er ist, oder in seinem Bestseller „Nichts als die Wahrheit“) oder -hören (im Podcast von „Stern Crime“). Sein wichtigster Punkt: Keinem Lügner wächst eine lange Nase. Der Inhalt einer Geschichte ist entscheidend. Nicht die Art, in der sie vorgetragen wurde, oder der Gesichtsausdruck des Erzählers.
„Wir können Menschen nicht in
den Kopf reingucken“
Akten und Protokolle müsse man genau studieren, meint Max Steller im Podcast. Im Vergleich zeigen sich oft die Ungereimtheiten, die auf eine Lüge hinweisen. „Wir können Menschen nicht in den Kopf reingucken, wir können Lügen nicht am Ausdruck erkennen“, sagt er. „Wir müssen ganz genau hingucken, was sagt das Gegenüber eigentlich, und das nicht nur zum jetzigen Zeitpunkt, sondern in der Aussageentwicklung?“
Nach Anzeichen von Verlegenheit und Nervosität zu suchen, das sei ein Holzweg, meint Steller. Seit Jahrzehnten forsche man über „nonverbale Merkmale“ des Lügens oder der Wahrheit. Gemeint sind Gestik, Mimik und Körpersprache. Dutzende von Analysen seien verglichen worden, das Ergebnis sei klar: „Das gibt keine brauchbaren Befunde.“ Man könne aus Scham erröten, aus Erregung, wenn man die Wahrheit sage – oder auch, wenn man lüge.
Max Steller hat in diversen großen Prozessen eine Rolle gespielt. Etwa in den Wormser Prozessen, in denen 25 Menschen des Kindesmissbrauchs angeklagt waren. Beruhend auf Aussagen, die den vermeintlich betroffenen Kindern eingeredet worden waren. Steller legte die Grundlage für neue Verfahren, wie solche Aussagen zu prüfen seien. Die Prozesse endeten sämtlich mit Freisprüchen.
Und diesmal? Hat das Landgericht Traunstein die Grundlage für eine erneute Verurteilung gegen Sebastian T. sozusagen selbst auseinandergenommen. Schließlich war es die 1. Jugendkammer unter Heike Will, die das Gutachten bei Steller in Auftrag gegeben hatte. Aus gutem Grund: Bei psychisch erkrankten Zeugen – Adrian M. leidet unter anderem unter einer Borderline-Störung – empfiehlt der BGH sogar ein externes Gutachten.
Der Auftrag hätte nach Ansicht der Verteidiger Regina Rick und Dr. Yves Georg schon in der ersten Auflage des Prozesses von 12. Oktober 2023 bis 19. März 2024 erteilt werden müssen. Seinerzeit war Sebastian T. vor allem aufgrund der Aussage von Adrian M. zu neun Jahren Jugendstrafe verurteilt worden. Tatsächlich aber befand er sich bis zum Freitag, 20. Juli, in U-Haft, nachdem erfolgreich Revision eingelegt worden war. Zwischendurch hatte Adrian M. seine Haftstrafe angetreten – wegen Cyber-Groomings, Missbrauchs von Kindern ohne Anfassen. Seine Opfer hatte er manipuliert und belogen.
Tatort, Tatwaffe, DNA, Geständnis –
all das fehlt dem Fall
Kein Tatort, keine Tatwaffe, kein Zeuge, keine DNA, kein Geständnis: Es war schon in der ersten Auflage des Prozesses schwierig, die Vorgänge vom 3. Oktober 2022, als Hanna W. auf dem Rückweg vom Club „Eiskeller“ zu Tode kam, eine überzeugende Indizienkette zu knüpfen. Nun hat Max Steller den entscheidenden Zeugen auseinandergenommen. Und damit scheint der Tatvorwurf der gefährlichen Körperverletzung und des Mordes kaum mehr belegbar zu sein.
Das Gericht entschied nun dementsprechend: Die U-Haft für Sebastian T. wurde nicht nur „ausgesetzt“, sie wurde „aufgehoben“. Wohl ein Fingerzeig auf einen Freispruch im neu aufgelegten Prozess, der ab dem 29. September im Amtsgericht Laufen stattfinden wird.