„Unverhältnismäßig und unmenschlich“

von Redaktion

Asylunterkunft im Gewerbegebiet: Stephanskirchener Bürger befürchten Ghettoisierung

Stephanskirchen – Stephanskirchen rot(t)iert. Nicht nur die Gemeinde wehrt sich seit einem Jahr gegen die Asylunterkunft für 101 Menschen im Gewerbegebiet Murnau. Auch eine Bürgerinitiative lehnt sich gegen das Projekt auf. Das sind die Gründe.

Man könnte meinen, in Stephanskirchen soll eine neue Marke platziert werden. In großen weißen Lettern prangt „Hofmühlstraße 34“ auf schwarzem Grund von der Fassade des Gebäudes. Die geplante Asylbewerberunterkunft in der Gemeinde Stephanskirchen ist „gebrandet“. Doch Werbung hin oder her: Der Widerstand gegen die Flüchtlingsunterkunft reißt auch nach einem Jahr nicht ab.

Vorgehen verursacht
zahlreiche Klagen

„Wir wehren uns gegen die Vorgehensweise des Landratsamtes“, sagt Jens Kotte, der gemeinsam mit Daniel Bail die Bürgerinitiative (BI) „Stephanskirchen rot(t)iert“ gründete. Sie haben den Namen ihrer Initiative bewusst an den der Nachbarn in Rott angepasst, denn überall, so Kotte, sei die Taktik gleich: „Das Landratsamt entmündigt die Gemeinden, trifft Entscheidungen über die Köpfe der Bürger hinweg, setzt sie vor vollendete Tatsachen und wälzt die Verantwortung auf die Gemeinden ab. Ohne Rücksicht auf die Auswirkungen für die Gemeinden.“ Dass die damit völlig überfordert sind, beweisen zahlreiche Klagen gegen die Errichtung von Flüchtlingsunterkünften: In Rott sollen 270 Menschen einziehen, in Kolbermoor 212, in Riedering 174, in Feldkirchen-Westerham 160, in Stephanskirchen 101.

Helfen ja, aber im
richtigen Maß

„Menschen in Not muss geholfen werden. Wir wehren uns nicht grundsätzlich gegen die Unterbringung von Geflüchteten in unserer Gemeinde“, betont Daniel Bail. „Aber nicht so – in dieser Größenordnung, ohne Integrationskonzept und ohne die Bevölkerung einzubinden.“ 101 Asylsuchende auf engstem Raum in einer Massenunterkunft mitten in einem Gewerbegebiet unterzubringen, sei unverhältnismäßig und unmenschlich: „Hier gibt es keinerlei Infrastruktur für die Menschen. Diese Ghettoisierung birgt erhebliches Konfliktpotenzial und könnte einen sozialen Brennpunkt schaffen.“

Die Gemeinde Stephanskirchen versucht, die Unterkunft auf dem Klageweg zu verhindern und hat in der jüngsten Gemeinderatssitzung (22. Juli) entschieden, erneut Beschwerde beim Verwaltungsgerichtshof einzulegen. Sie hält die geplante Unterkunft aufgrund ihrer Größe und wegen des industriellen Charakters der Liegenschaft für ungeeignet und möchte geflüchtete Menschen dezentral unterbringen. Damit hat sie in den vergangenen Jahren gute Erfahrungen gemacht. Ein Beispiel dafür – eine kleine Flüchtlingsunterkunft – befindet sich wenige Hundert Meter von der geplanten Massenunterkunft „Hofmühlstraße 34“ entfernt. „An der Mühlstraße leben circa 25 bis 30 Menschen. Das ist eine Größenordnung, die den Geflüchteten ein menschenwürdiges Leben ermöglicht, die unsere Gemeinde und die Nachbarschaft verkraften kann“, erklärt Kotte.

Als diese Familien in Stephanskirchen ankamen, habe es noch einen starken Helferkreis in der Gemeinde gegeben. Auch das, so Kotte, habe sich inzwischen geändert. „Viele Einwohner haben in der Vergangenheit Geflüchtete unterstützt – mit Sachspenden, ehrenamtlichem Engagement und echter Nachbarschaftshilfe. Doch diese Strukturen sind nach Informationen der Gemeinde weitgehend zusammengebrochen: Der ehrenamtliche Helferkreis existiert faktisch nicht mehr.“

Damit unter den neuen Bedingungen die Integration in der Praxis nicht scheitert, fordert die Bürgerinitiative eine Begrenzung der geplanten Bewohnerzahl an der Hofmühlstraße auf maximal 50 Personen. Zudem will sie das Landratsamt in die Verantwortung nehmen: „Die Menschen dürfen sich nicht selbst überlassen werden. Sie brauchen eine Tagesstruktur. Sie brauchen Ansprechpartner, bestenfalls Sozialarbeiter, die rund um die Uhr für sie da sind und bei möglichen Problemen schnell helfen können“, erklärt Daniel Bail. „Deshalb fordern wir ein Sicherheitskonzept für Asylbewerber und Anwohner sowie ein detailliertes Sozialkonzept für die geflüchteten Menschen mit konkreten Integrationsmaßnahmen, Sprachkursen und Freizeitangeboten.“

Die BI „Stephanskirchen rot(t)iert“ will die Gemeinde unterstützen. Unparteiisch, aber an der Seite der im Gemeinderat vertretenen demokratischen Parteien. „Unser Engagement ist ein Signal, dass auch die Bürger der Gemeinde ihre Stimme erheben, um ihr demokratisches Mitspracherecht einzufordern“, betont Jens Kotte. „Wir fordern vom Landratsamt mehr Transparenz, wollen in Entscheidungen eingebunden und nicht vor vollendete Tatsachen gesetzt werden.“

Doch vollendete Tatsachen schafft das Landratsamt immer wieder. Selbst die Gemeinde Stephanskirchen werde nur eingeschränkt über das Projekt informiert, kritisiert Bürgermeister Karl Mair auf OVB-Anfrage: „Dass beispielsweise am 24. Juli mit der Einrichtung der Unterkunft begonnen wurde, habe ich aus der Bürgerschaft erfahren.“ Erst auf Nachfrage beim Landratsamt sei ihm bestätigt worden, dass entsprechende Aufträge an Firmen erteilt wurden. Aufgrund der vielen offenen Fragen der Bürgerinitiative und auch aus dem Gemeinderat hat Bürgermeister Karl Mair einen Fragenkatalog zur geplanten Unterkunft an das Landratsamt gerichtet, der die wichtigsten und immer wieder auftretenden Fragestellungen beinhaltet. Sollte trotz der laufenden Klage der Bezug der Einrichtung bevorstehen, wurden der Gemeinde vom Landratsamt eine Begehung mit dem Gemeinderat und eine Bürgerinformationsveranstaltung zugesagt. Dass viele Einwohner Fragen und Sorgen mit der geplanten Flüchtlingsunterkunft verbinden, haben auch die Mitglieder der Bürgerinitiative festgestellt. Anfangs gingen sie von Tür zu Tür, um aufzuklären.

Petition
gestartet

Inzwischen haben sie eine Online-Petition gestartet, um noch mehr Menschen zu erreichen. „Bis November kann jeder unterschreiben – egal, wo er wohnt“, betonen Jens Kotte und Daniel Bail: „451 Unterstützer haben wir schon. Darunter sind auch Menschen mit Migrationshintergrund, die sich in Stephanskirchen ein neues Leben aufgebaut haben.“

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