Pittenhart – Die „Mammillaria“ war die erste. Im zarten Alter von neun wurde Michi Kießling zum ersten Mal Kaktus-Besitzer. Nur vier Jahre später besaß er schon über 100 Kakteen. Die Faszination besteht bis heute, die Kakteen-Zucht ist zu seiner Lebensaufgabe geworden. Doch was macht die stacheligen Pflanzen so besonders? „Die extreme und unendliche Vielfalt sowie die Beharrlichkeit, trotz sämtlicher Widrigkeiten zu überleben, faszinieren mich. Diese unerschöpflichen Charakterzüge besitzt sonst keine Pflanze“, sagtKießling, während er durchs Gewächshaus führt.
Diverse Sorten,
diverse Liebhaber
Schlacksig, breit, rund oder krumm – im Gewächshaus breitet sich ein immens langer Teppich aus Kakteen aus. „Um die 100000 werden es schon sein“, mutmaßt der Pittenharter. Vielen ist er bekannt unter seinem Spitznamen „Kaktus-Michi“. Er deutet auf den „Schrauben- oder Säulenkaktus“, der durch seine gedrehte, gewindeartige Wuchsform heraussticht. Auch beliebt: der „Feigenkaktus der Gattung Opuntia“, der je nach Blickwinkel die Form eines Herzens hat – oder aber aussieht wie ein Biberschwanz. Berüchtigt im Namen und dennoch eine der beliebtesten Kakteensorten: der „Goldkugelkaktus“, wegen seiner runden Form auch gehässig „Schwiegermutterstuhl“ genannt. Viele stehen zum Verkauf. Andere wiederum sind alte Erbstücke, haben schon einige Jahrzehnte auf dem Buckel und gehören zur unverkäuflichen Sammlung von Michi Kießling.
Kakteen wachsen in allen Regionen der Welt, unabhängig von den dortigen klimatischen Bedingungen: ob in den feuchten Tropen bei um die 40 Grad, der erbarmungslos heißen und trockenen Wüste oder im ewigen Schnee bei 20 Grad minus.
„Sie sehen alle gleich aus, aber danach darf man nicht gehen. Neben dem langsamen Wachstum – ähnlich dem eines Bonsais – ist es unabdingbar zu wissen, woher der Kaktus stammt. Erst wenn ich Genaueres über seine Herkunft weiß, kann ich meine Kultur danach richten“, erläutert Kießling die Herausforderung der Zucht.
Viele Kakteen sind winterhart, weiß Kießling. Durch den Klimawandel sei es durchaus möglich, die Pflanzen auch bei uns zu halten. „Eher geht die eine oder andere Staude ein, weil es ihr zu nass ist. Kakteen hingegen halten auch Temperaturen bis zu minus 18 Grad aus“, erklärt er. Die Voraussetzungen bei uns sind gut: „Kakteen benötigen keine teure Lava-Erde. Sie lieben den Kalkschotter des Alpenvorlands. Auf Baukies gedeihen sie prächtig.“
Sein Wissen hat er sich überwiegend selbst beigebracht. Am Anfang ging dabei so ziemlich alles schief: vom Standort über die klimatischen Bedingungen bis hin zum weit verbreiteten Irrglauben, dass ein Kaktus wenig Wasser benötigt.
Doch Kießling blieb geduldig: „Als ich gesehen habe, dass sich etwas bewegt, ein Stachel wächst und eine Blüte sprießt, war mein Ehrgeiz geweckt. Ein paar Jahre hat es schon gedauert, bis ich wusste, was ein Kaktus wirklich braucht. Es war ein steiniger Weg, aber wenn es mal funkt, ist es eine Sucht“, unterstreicht er. Über die Liebe zur Natur und eine Gärtnerlehre startete er schließlich 2006 in die Selbstständigkeit. Diesen Weg würde er wieder so einschlagen, erzählt er rückblickend. Allerdings mit dem Unterschied, eher die Selbstständigkeit zu wählen.
„Damals wurde ich gewarnt, aber ich hab‘s durchgezogen. Heute kann ich gut davon leben, habe einen soliden Kundenstamm aufgebaut. Die Leute kommen von überall. Ich hatte schon Kunden aus Australien oder Las Vegas. Kakteen-Enthusiasten sind ein eigener Schlag, aber gleichzeitig höchst angenehme Menschen. Da wird nicht geprahlt oder kritisiert – es sind alle gleich.“
Nicht selten startet der Frühaufsteher bereits um 3 Uhr morgens in den Tag: Zunächst widmet er sich den Bürotätigkeiten, der Social-Media-Pflege und dem Kontakt zu den Kunden, ehe es ans Gießen im Gewächshaus geht. Nicht selten bekommen die Kakteen dabei musikalische Untermalung. Denn Kießlings zweites Hobby ist das Singen – gerne Karaoke in der Obinger Musikbar „Laube“. „Volbeat, Kings of Leon, Elvis oder Peter Maffay – ich singe, wo ich gehe und stehe und auch die Kakteen kriegen einige Töne ab“, erzählt er. Als gelernter Zierpflanzengärtner weiß Kießling, dass Spritzmittel und Pestizide bei Kakteen überschaubar sind: „Ganz vermeiden lässt es sich nicht, aber soweit es geht, versuche ich, mit biologischen Extrakten zu arbeiten.“
Tipps vom
Profi-Züchter
Schließlich sind auch Kakteen nicht von Schädlingen ausgenommen: Die „Rote Spinne” beispielsweise hat sich als Bezeichnung für mehrere Arten von Spinnmilben eingebürgert und gilt als genauso gefährlich wie Wurzel- oder Schmierläuse. Wichtig daher: optimale Kulturbedingungen schaffen, dann gibt‘s auch keine Schädlinge.
Welche Empfehlung würde er jemandem mitgeben, der gerade beginnt, sich für Kakteen zu interessieren? „Erst mal die örtlichen Gegebenheiten ins Auge nehmen. Sind die Bedingungen auch im Winter optimal, stimmen Lichtverhältnisse und Temperaturen? Hier spielen viele Faktoren eine Rolle. Gekauft ist ein Kaktus schnell, aber genauso schnell ist er auch kaputt“, spricht Kießling aus Erfahrung.
Seine Ziele für die kommenden Jahre sind eher bescheidener Natur: „Ich glaube, ich habe hübsch alles erreicht, ich kann selektieren und muss keine Masse machen. Schee stad komme ich in die Phase des Genießens. Das Hobby hält mich jung, obwohl es solch einen morbiden Ruf hat“, ist sich der 56-Jährige sicher, ehe er sich wieder seinen Schützlingen widmet. Mit Bedacht zupft er an einem Stachel und rückt einen Topf gerade. Für seine Fürsorge belohnen ihn die Kakteen nicht nur mit der alljährlichen Blüte – sie zaubern dem Pittenharter jeden Tag aufs Neue ein Lächeln ins Gesicht.