„Jeder Stein wird umgedreht“

von Redaktion

Interview Rechtsanwalt Peter Dürr erwartet langwierigen Hanna-Prozess

Aschau/Traunstein – Das Verfahren um den Tod von Hanna W. aus Aschau geht in die zweite Runde – mit derselben Anklageschrift wie im ersten, aufgehobenen Prozess. Aber was bedeutet das für die Verhandlung? Im exklusiven OVB-Interview spricht der Rechtsanwalt Peter Dürr über die knifflige Ausgangslage: warum die Anklage identisch sein muss, was anders sein wird als beim ersten Prozess und was die Aufhebung des Haftbefehls gegen Sebastian T. bedeuten könnte.

Das Landgericht hat die Anklageschrift für den Hanna-Prozess ab 29. September verschickt. Es ist exakt dieselbe wie die von 2023, so als habe es zuvor keine 35 Verhandlungstage gegeben…

Das ursprüngliche Urteil ist durch den Bundesgerichtshof zwar aufgehoben worden. Aber es bleibt eben das gleiche Verfahren. Die Staatsanwaltschaft kann nicht sagen, wir haben neue Erkenntnisse, wir passen die Anklageschrift nachträglich an oder nehmen bereits jetzt in dieser eine andere rechtliche Würdigung vor. Dies alles bleibt der neuen Verhandlung und der erneuten Beweisaufnahme vorbehalten.

Haben sich nicht möglicherweise in der Zwischenzeit neue Erkenntnisse seitens der Ermittler oder Verteidiger ergeben?

Das kann durchaus sein. Erkenntnisse liegen ja schon aus dem ersten Durchlauf vor. Und ein neues Gutachten haben wir ja bereits durch das aussagepsychologische Gutachten zur Glaubwürdigkeit des Knastzeugen. Es steht jedenfalls allen Verfahrensbeteiligten frei, neue Beweisanträge zu stellen. Die Verteidigung hatte ja bereits im ersten Durchlauf einige Anträge gestellt, die das Gericht ablehnte. Es kann sein, dass diese Beweisanträge erneut gestellt werden. Das Gericht muss dann wiederum entscheiden, ob es diesen Anträgen nachkommt oder nicht. Es kann auch zu einem richterlichen Augenschein kommen. Wenn möglicherweise Erkenntnisse zu einer Örtlichkeit gewonnen werden, beispielsweise ein Wehr, an dem sich das Opfer seine Verletzungen zugezogen haben könnte, dann kann das Gericht sagen: Wir schauen uns das vor Ort mal an. Ich habe das schon mal bei einem Mordprozess am Landgericht Traunstein erlebt. Manchmal ist das aufschlussreicher, als nur Lichtbilder zu betrachten.

Werden dieselben Zeugen vorgeladen, die bereits in der ersten Auflage des Prozesses ausgesagt haben?

Das Beweisprogramm bestimmt das Gericht, und zwar für jeden Zeugen individuell. Wenn das Gericht davon ausgeht, dass einzelne Zeugen wenig zur Sache beitragen können, dann vielleicht nicht. Eine erhebliche Anzahl an Verhandlungsterminen steht ja bereits fest, die Zeugenladungen müssten also schon aufgeführt sein. Ich gehe jedoch davon aus, dass zunächst alle Zeugen nochmals geladen worden sind. Es kann sein, dass man dann während des Prozesses auf die eine oder andere Aussage eines Zeugen verzichten kann. Aber grundsätzlich ist es sinnvoll, dass man sie erst einmal alle ins Boot holt. Besser jedenfalls so, als dann nachträglich festzustellen, dass man den Zeugen doch bräuchte und dann zusätzliche neue Termine gesucht werden müssen.

Jedenfalls scheint es nicht einfacher für das Gericht zu werden.

Man wird bei der zweiten Verhandlung sicherlich noch genauer hinschauen. Da wird jeder Stein umgedreht werden. Vielleicht wird wieder eine Seite mit dem Urteil nicht zufrieden sein. Im Falle eines Freispruchs könnte auch die Staatsanwaltschaft ihrerseits wiederum in Revision gehen. Das Gericht wird mit höchster Sorgfalt herangehen, was ja auch seine rechtsstaatliche Aufgabe ist.

Und wie sieht es mit den Gutachtern aus – sind neue Experten zu erwarten?

Jede Verhandlung gewinnt irgendwann ihre eigene Dynamik. Schon das aussagepsychologische Gutachten bringt Bewegung in diesen Prozess. Nach dem Mündlichkeitsgrundsatz muss halt alles in die Verhandlung eingeführt werden. Die Verteidigung hatte im ersten Durchlauf Gutachter beantragt, die abgelehnt wurden. Wenn das Gericht diese Gutachter nicht von selbst lädt, dann muss die Verteidigung einen neuen Beweisantrag stellen.

Nach dem besagten aussagepsychologischen Gutachten setzte das Landgericht die Untersuchungshaft für Sebastian T. nicht nur aus, es hob sie sogar auf. Eine Vorentscheidung zugunsten des Angeklagten?

Zwischen „aussetzen“ und „aufheben“ besteht tatsächlich ein deutlicher Unterschied. Es gibt allerdings noch kein (neues) Urteil. Aber wenn der Haftbefehl komplett aufgehoben wird, hat das schon Gewicht und gewisse Indizwirkung. Das Gericht muss letztlich aber seinem Urteil das zugrunde legen, was in der neuen Hauptverhandlung zur Sprache gekommen ist, und sich dann eine abschließende Meinung bilden. Und es muss sich besprechen, im Gremium mit den Schöffen. Aber – wenn die Haft komplett aufgehoben wird –, dann bestehen jetzt offenbar Zweifel am dringenden Tatverdacht. Die Verteidigung ist, so scheint es, durch die Urteils- und Haftbefehlsaufhebung durchaus in einer angenehmen Position.

Verteidigerin Rick hat angekündigt, die Verteidigung werde einen Freispruch wegen erwiesener Unschuld anstreben.

Es gibt strafprozessual keinen Freispruch erster und zweiter Klasse. Aber es sieht tatsächlich so aus, als wolle die Verteidigung fast schon das Gegenteil beweisen von dem, was die Staatsanwaltschaft behauptet. Ob dies wiederum eindeutig belegt werden kann, weiß ich nicht. Eine Verurteilung kann jedoch nur dann erfolgen, wenn ein zweifelsfreier Tatnachweis zu führen ist.

Erwarten Sie einen kürzeren Prozess als in der ersten Auflage?

Nein, nicht unbedingt. Aber viele Überraschungen werden wegfallen. Der Aha-Effekt durch den Knastzeugen, der seinerzeit nach den ersten Verhandlungstagen plötzlich auftauchte, ist nicht mehr da. Dass die früher wichtige Zeugin nicht sehr viele Erkenntnisse bringt, scheint auch klar. Überhaupt, die Zeugen: Viele Zeugen haben erfahrungsgemäß nach dem ersten Prozess ihre Aussage sozusagen gedanklich abgehakt. Der Kopf sagt sich, die Aussage ist durch. Es rechnet ja niemand damit, dass das Verfahren nochmals von vorne beginnt. Zudem liegt der Vorfall mittlerweile Jahre zurück. Erfahrungsgemäß werden die Zeugenaussagen aus diesem Grunde nicht besser. Wenn ein Zeuge mehr weiß als im ersten Durchgang, dann stimmt das eher bedenklich. Man hat ja auch kein Wortprotokoll.

Bedauern Sie das?

Die Einführung eines Wortprotokolls am Landgericht ist sehr umstritten. Manche drängen auf eine entsprechende Gesetzesänderung. Aber dann ist die Frage, wie das Protokoll geführt wird. Vielleicht ist die Aussage eines Zeugen ja nur sinngemäß aufgezeichnet. Es unterschreibt ja kein Zeuge zum Schluss seine gerichtliche Aussage. Manchmal erleben Sie vor Gericht auch einfach nur Gestammel. Gut, das könnte die KI aufzeichnen und verschriftlichen. Aber schön zu lesen ist das dann sicher nicht.

Hat es Sie überrascht, dass der Fall an die Erste Jugendkammer verwiesen wurde, die mit der Ablehnung des Befangenheitsantrags die Revision verschuldet hat?

Überhaupt nicht. Es gibt an jedem Gericht einen Geschäftsverteilungsplan. Schon daraus geht ganz klar hervor, dass im Falle einer Urteilsaufhebung und Zurückverweisung der Prozess an die Erste Jugendkammer verwiesen wird. Die Jugendkammer hätte nun sagen können, dass sie sich selbst ablehnt. Oder auch die Verteidigung hätte das tun können. Aber auch dann wäre wiederum festgelegt, welche andere Kammer an der Reihe ist.

Ein Landgerichtsprozess in Laufen ist auch eher ungewöhnlich, oder?

Laufen ist deswegen ausgesucht worden, weil in Traunstein derzeit Großverhandlungen anhängig sind und dadurch die Sitzungssäle stark ausgelastet sind. Man braucht für diesen Prozess aufgrund der vielen Verfahrensbeteiligten und sicherlich auch aufgrund des enormen öffentlichen Interesses einen großen Saal. Und es ist der Sache dienlich, wenn in Ruhe, mit guter Ausstattung und auch großzügigen Arbeitsplätzen verhandelt werden kann. Es wäre nicht vorteilhaft, wenn man immer wieder mal in einen kleineren Saal umziehen muss, weil der Große Saal am Landgericht für einen anderen Prozess benötigt wird. In Laufen hat man zudem einen der modernsten Säle im Gerichtsbezirk, der erst kürzlich umfassend renoviert wurde.

Interview: Michael Weiser

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