„Jerwa“ macht ihn über Nacht berühmt

von Redaktion

Nils (30) ist über Nacht berühmt geworden. Innerhalb von vier Tagen bekam er mehr als 10000 Likes. Der junge Mann kämpft für den Erhalt der „Jerwa-Station“. Dafür erzählt er seine bewegende Geschichte, und die hat viel mit der Schön-Klinik in Vogtareuth zu tun.

Vogtareuth – Elke Fischer-Wagemann ist eine Kämpferin, so wie alle Mütter von Kindern mit schweren Behinderungen. Ihr „Kind“ ist inzwischen 30 Jahre alt, und endlich hat sie für Nils einen Ort gefunden, an dem Brücken aus der Kindheit ins Erwachsensein geschlagen werden. „Die Station Jerwa begleitet junge Menschen mit Behinderung beim Übergang von der Neuropädiatrie in die Erwachsenenmedizin, diese Übergangsversorgung ist einzigartig in Deutschland. Hier erleben wir etwas, was wir vorher anderswo nie gefunden haben: eine interdisziplinäre Behandlung und Beratung auf höchstem Niveau“, sagt Elke Fischer-Wagemann (60). Nun will die Schön-Klinik diese Station schließen. Dagegen läuft die Mutter Sturm. Gemeinsam mit ihrem Sohn. Sie haben eine Online-Petition zum Erhalt der Station Jerwa in Vogtareuth gestartet. Und innerhalb von nur vier Tagen haben mehr als 10000 Menschen unterzeichnet.

Ein Refugium
für Menschen
mit Behinderung

Auf der Station Jerwa werden schwer mehrfachbehinderte Menschen behandelt, viele nach komplexen neurochirurgischen, wirbelsäulen- oder orthopädischen Eingriffen. „Ohne Jerwa müssten Betroffene zahlreiche Kliniken und Fachärzte aufsuchen, was oft unmöglich ist“, weiß Elke Fischer-Wagemann aus eigener Erfahrung. Nils war ein gesundes Baby. Sieben Monate lang. Dann veränderte eine Pneumokokken-Enzephalitis sein Leben und das seiner Familie. Die Bakterien hatten eine schwere Entzündung des Gehirns und der Hirnhäute verursacht. Nach drei Tagen im Koma war Nils zurück im Leben. „Dann hat er wahnsinnig gekrampft“, erinnert sich seine Mutter.

Die Epilepsie war die erste Folge einer frühkindlichen Hirnschädigung. „Und dann kamen sie alle – die Folgen der Folgen“, macht Elke Fischer-Wagemann das Ausmaß der Diagnose klar. Nils entwickelte sich langsamer als andere Kinder. Er wurde von Spastiken geplagt. Seine Wirbelsäule verkrümmte sich. Füße und Hände verformten sich. Die Skoliose führte zu einer Fehlstellung des Oberkörpers, die auch die Verdauungsorgane einengt. „Glücklicherweise kann Nils eigenständig essen und löffelweise trinken“, beschreibt die Mutter seine Fähigkeiten. Eigentlich wohnt die Familie in Nürnberg. Auf der Suche nach guter medizinischer Versorgung haben Nils und seine Mutter in 30 Jahren viele Kliniken kennengelernt. An der Filderklinik in Stuttgart fühlten sie sich gut aufgehoben, doch als die Epilepsie „ausgewachsen“ war, mussten sie für die anderen Erkrankungen wieder neue Ärzte und neue Kliniken finden.

„Ich habe wirklich lange und intensiv gesucht, bis ich vor drei Jahren endlich die Station Jerwa in Vogtareuth gefunden habe“, erzählt die Mutter. „Hier sind alle Experten in einem Team – Neurologen, Orthopäden, Wirbelsäulen- und andere Chirurgen, Urologen. Hier greifen Therapie, Pflege und Rehabilitation wie Zahnräder ineinander. Hier arbeiten Fachrichtungen zusammen, die sonst oft getrennt sind“, beschreibt sie das Einzigartige an der Station. Auch die Angehörigen werden eingebunden: „Ich werde als Mutter ernst genommen, geschult und beraten. Ich bin Teil des Teams und werde befähigt, meinem Sohn im Alltag bestmöglich zu helfen.“ Im „Hollerhof“ bei Ingolstadt hat sie für Nils einen Ort mit Förderstätte und Wohnheim gefunden, an dem er gut aufgehoben ist. „Die Station Jerwa steht im Austausch mit der Einrichtung. Und so erhalten auch die dortigen Therapeuten wichtige Impulse, damit mein Sohn langfristig gefördert werden kann.“

Nach vielen Jahren hat die Mutter erstmals das Gefühl, dass sie für Nils alles auf den Weg gebracht hat, dass er auch dann gut versorgt ist, wenn sie eines Tages nicht mehr da ist. Doch diese Sicherheit währte nicht lange. Als in Vogtareuth verkündet wird, dass Jerwa zum Jahresende schließt, ist Elke Fischer-Wagemann gerade vor Ort. „Jetzt reicht‘s“, sagt sie empört und ergreift die Initiative für die Petition. Auf Instagram postet sie unter „jerwamussbleiben“ fast täglich Videos von Nils und erklärt, wie ihm in Vogtareuth geholfen wird. Die frühkindliche Hirnschädigung hat zu Deformationen seiner Gliedmaßen und Verkürzungen der Muskeln geführt. Seine Wirbelsäule wurde mit einem Stab stabilisiert. Einmal im Jahr kontrollieren die Experten in Vogtareuth, wie es ihm damit geht. Jetzt wurde bei ihm eine Myofasziotomie durchgeführt.

„Dabei werden in einem minimal-invasiven Verfahren die verkürzten Muskeln verlängert“, erklärt Elke Fischer-Wagemann. „Nils wurde damit geholfen. Die Beweglichkeit seiner Gliedmaßen hat sich verbessert.“ Zur ganzheitlichen Medizin für junge Erwachsene (Jerwa) gehören in Vogtareuth auch Logopäden und Ergotherapeuten. „Mit ihnen hat Nils gelernt, per Augenkontakt über den Computer zu kommunizieren“, ist Elke Fischer-Wagemann glücklich. Jetzt kann er sich besser verständigen und das bestätigen, was seine Mutter schon immer wusste: „Er ist wach und klar, weiß ganz genau, was abgeht!“ Jerwa hat die Lebensqualität von Nils verbessert, ermöglicht ihm langfristig mehr Gesundheit und Teilhabe.

„Diese Station ist ein Modell und Forschungsfeld, das dringend in Kooperation mit Universitäten weiterentwickelt werden muss“, fordert Elke Fischer-Wagemann. Noch gibt es für die ganzheitliche Medizin für Menschen mit Mehrfachbehinderungen keine Lehre. Noch gibt es keine Lehrbücher. „Die Vogtareuther Experten wollten nach vier Jahren Erfahrungen gerade damit beginnen, ihr umfassendes Wissen in einem Lehrbuch zu verankern“, berichtet sie. Doch auch dieses Projekt stirbt mit der Schließung der Station zum Jahresende. „Die Schließung von Jerwa wäre ein Rückschritt für Inklusion, Forschung und Gesundheitsversorgung in Deutschland.“

Petition
beim Landtag
eingereicht

Update vom 7. Oktober 2025: Die Online-Petition „Erhalt der Station JERWA in Vogtareuth – Einzigartige Transition sichern!“ hat bereits 14750 Unterstützer. Initiatorin Elke Fischer-Wagemann hat inzwischen auch eine Petition beim Bayerischen Landtag eingereicht. Mit der Bitte, „dieses lebensnotwendige Konzept für Menschen mit schweren Behinderungen und ihre Angehörigen zu unterstützen und zu sichern“. Fischer-Wagemann fordert einen Runden Tisch aus Klinik, Politik, Krankenkassen, Forschung, Wirtschaft, Stiftungen und Angehörigenvertretungen. Dabei sollen alternative Lösungen ausgelotet werden – etwa neue Finanzierungsmodelle, Forschungskooperationen oder Pilotprojekte. Im Namen aller Betroffenen bittet sie darum, „politische Prozesse zu unterstützen, damit dieses erfolgreiche Modell nicht verlorengeht, sondern als Pilotprojekt gefördert und langfristig in der Kliniklandschaft verankert wird.“

Außerdem schlägt Elke Fischer-Wagemann vor, „Forschung, Wirtschaft und Stiftungen einzubeziehen, um Nachhaltigkeit, Weiterentwicklung und die Ausweitung auf weitere Standorte in Deutschland zu ermöglichen“.

Weitere Berichte zum Themenschwerpunkt Leben und Gesundheit unter ovb-online.de.

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