von Redaktion

Die Station „Jerwa“ an der Schön-Klinik Vogtareuth wird zum Jahresende geschlossen. Was das für junge Menschen mit Mehrfachbehinderung und ihre Angehörigen bedeutet, zeigt die 29 Jahre andauernde Odyssee von Adrian und Sybille Kayabasi.

Vogtareuth – „Wir sind viele“, sagt Sybille Kayabasi. „Wir müssen uns Gehör verschaffen. Die Behandlung von jungen Erwachsenen mit Behinderung in Vogtareuth ist einzigartig. Jerwa darf nicht sterben.“  Mehr als 16000 Menschen unterstützen mit ihrer Unterschrift die Petition zum Erhalt der Station „Jerwa“ für junge Erwachsene mit neurologischen oder neuropädiatrischen Erkrankungen und deren Folgen an der Schön-Klinik Vogtareuth. Es sind Betroffene, junge Menschen mit neurologischen Erkrankungen. Es sind ihre Familien – die Väter und Mütter, die für ihre Kinder die Stimme erheben, weil sie es selbst nicht können. So wie Sybille Kayabasi. Sie hat mit ihrem Sohn Adrian eine Odyssee von 29 Jahren hinter sich, ehe sie im Januar 2025 endlich die „Jerwa“ in Vogtareuth fanden.

Nervenbahn nicht
richtig ausgebildet

Die Familie lebt in Ellwangen in Baden-Württemberg. 1995 kommt Adrian hier mit einem seltenen Gendefekt zur Welt. „Festgestellt wurde das aber erst, als er schon 28 Jahre alt war“, erzählt Sybille. Sie erinnert sich an Kinderärzte, die ihr erklärten, ihr Sohn sei ein Schreikind, aber seine Hirnhautentzündung nicht erkannten. Danach wurde eine frühkindliche Hirnschädigung diagnostiziert. Adrians Hirnbalken – eine wichtige Nervenbahn, die die linke und rechte Hirnhälfte verbindet – war nicht richtig ausgebildet.

Sybille und Yilmaz Kayabasi haben alles versucht, um ihrem Sohn den Weg in ein möglichst normales Leben zu ebnen. Die Fehlstellungen der Gliedmaßen mussten behandelt werden, die Spastiken, die Verkürzung der Muskeln. „Wir haben viele Spezialisten aufgesucht“, berichtet Sybille. Doch fast alle hatten einen einseitigen Blick, basierend auf ihrer jeweiligen Fachrichtung. „Jeder hat Adrians Probleme aus seiner Sicht gedeutet, nie hat ihn jemand ganzheitlich betrachtet.“

Adrian muss oft Schmerzen aushalten. Mit ihm leidet seine Mutter. Nach einer Operation waren seine Füße mit Drähten stabilisiert und gegipst worden. „Er hatte die Narkose offenbar nicht vertragen, war fast drei Monate lang in einem Dämmerzustand, nie richtig wach. Trotzdem zitterte er und rollte mit den Augen.“ Es waren furchtbare Wochen. Sybille drehte Videos, schickte sie den Ärzten. In der Hoffnung auf Hilfe. Irgendwann waren Adrians Spastiken so stark, dass seine Knochen den Gips durchbrachen. „Da wurde mir klar, dass wir diese Operation nie hätten machen sollen“, macht sich Sybille Kayabasi Vorwürfe. 

Doch woher soll eine Mutter wissen, was richtig und was falsch ist? Viele Ärzte haben im Leben von Adrian viele unterschiedliche Meinungen vertreten. „Ich habe versucht, mich zu belesen, alle Zusammenhänge zu verstehen, um für meinen Sohn die richtigen Entscheidungen zu treffen“, beschreibt sie ihre Ohnmacht. Nebenbei muss Sybille Kayabasi sich mit Krankenkasse und Behörden streiten, damit Adrian auch das bekommt, was er braucht, und was ihm per Gesetz zusteht. Hilfsmittel wie Orthesen, Rollstuhl oder Aktivrollator. Oder jetzt, da die Kräfte seiner Mutter allmählich nachlassen, auch eine 24-Stunden-Assistenz. 

Familie Kayabasi reiste 29 Jahre lang Hunderte Kilometer durch Deutschland, um für Adrian eine Behandlung zu finden, die seine Lebensqualität nachhaltig verbessern kann. Doch immer wieder sammeln sie schlechte Erfahrungen. „In einer Klinik wurde ihm Botox gespritzt, um die Muskeln zu lähmen. In der anschließenden Reha sollten die Muskeln dann gedehnt werden. Doch alle Therapeuten waren krank, also musste ich es selbst machen“, erinnert sich Sybille. Wieder sucht sie nach Alternativen. „Es muss doch etwas geben, wo behinderte Menschen wie Adrian gut versorgt werden.“ So fand sie die Schön-Klinik in Vogtareuth mit der Station „Jerwa“ für junge Erwachsene mit neurologischen Erkrankungen und deren Folgen. Im Januar 2025 wurde Adrian, der inzwischen 30 Jahre alt ist, hier zum ersten Mal behandelt.

Das war ein Sechser im Lotto: „Mein Sohn wurde ganzheitlich betrachtet, mit der gebündelten Fachkenntnis von Spezialisten verschiedener medizinischer Fachrichtungen. Mit großer Empathie und Erfahrung.“ Ärzte, Gesundheitspfleger, Therapeuten und Rehatechniker machten sich gemeinsam mit Adrian und seiner Mutter Gedanken darüber, was für den jungen Mann mit seinen gesundheitlichen Problemen in seiner Lebenssituation das Beste ist. 

„Dabei schauen sie über den Tellerrand“, beschreibt Sybille Kayabasi. So stellen sie beispielsweise fest, dass Adrian beim Treppensteigen die Stufen nicht trifft, weil er eine falsche Brille trägt. Seine Nervenzuckungen werden erstmals thematisiert.

Mit MRT, EEG und EKG wird der Verlauf seiner Erkrankung kontrolliert. Und alles mit einem Ziel: „Wir machen das, was für Ihren Sohn das Beste ist.“ Diese Worte wird Sybille nie vergessen: „Ich spürte, dass es für die Mitarbeiter in Vogtareuth wirklich eine Herzensangelegenheit ist, meinem Sohn zu helfen. Danach hatte ich so lange gesucht. Endlich waren wir angekommen.“

Familie Kayabasi war gerade wieder in Vogtareuth. Adrians Rollstuhl wurde an seine körperliche Entwicklung angepasst. Neurologen, Orthopäden, Physiotherapeuten und Rehatechniker empfahlen, den jungen Mann künftig nicht mehr mit festen Orthesen, sondern mit bequemen Schuhen an seinem Rollator laufen zu lassen. Auch die Orthesen für die Nachtlagerung braucht er nicht mehr. Mit den Luftpolstern, die ihm die Jerwa empfohlen hat, geht es Adrian viel besser. 

„Das Team hat so viel Erfahrung. Da wird nicht auf Teufel komm raus operiert oder rezeptiert“, erklärt Sybille den Unterschied zu allem, was sie vorher erlebte. Für die Nachtorthesen hat die Krankenkasse 3000 Euro gezahlt. Die Luftpolster muss die Familie zwar selbst bezahlen, doch sie sind mit 280 Euro vergleichsweise erschwinglich. „Die gebündelte Kompetenz der Jerwa-Station spart den Krankenkassen enorme Kosten, vor allem aber erspart sie meinem Sohn Schmerzen und verbessert seine Lebensqualität.“ Sybille Kayabasi ist dankbar, dass sie in Vogtareuth auf außergewöhnliche Menschen getroffen ist. Seitdem sie weiß, dass die Station für junge Erwachsene mit neurologischen Erkrankungen geschlossen wird, und die Mitarbeiter ihre Jobs verlieren, ist sie fassungslos: „Ich habe 29 Jahre lang gesucht und weiß, dass es nichts Vergleichbares in Deutschland gibt.“ 

„Jerwa muss
bleiben“

Sie kann nicht verstehen, dass ein Leuchtturmprojekt wie „Jerwa“ einfach abgewickelt wird, obwohl es die medizinische Versorgung behinderter Menschen verbessert und gleichzeitig Kosten spart. Sie ist wütend, dass sich Politiker nicht für die medizinische Versorgung von Menschen mit Behinderung stark machen und stellt eines klar: „Unsere Kinder, junge Menschen mit Behinderung, haben das Recht auf die beste medizinische Versorgung. Dafür müssen wir uns starkmachen und unsere Stimme erheben. Jerwa muss bleiben!“

„Vogtareuth ist für Adrian wie ein Sechser im Lotto“

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