Neue Wege im Kampf gegen Suchterkrankungen

von Redaktion

Rund zehn Millionen Erwachsene in Deutschland haben eine Suchterkrankung. Doch nur ein Bruchteil ist in Behandlung. Dabei gibt es Hilfe. Anlaufstelle Nummer eins in der Region: das kbo-Inn-Salzach-Klinikum Wasserburg. Der Chefarzt der Suchtmedizin, Dr. Aljoscha Spork, erklärt, warum es bei der Therapie um mehr geht als nur um Entzug und verstärkt auf ambulante und teilstationäre Angebote gesetzt wird.

Wasserburg – Die Zahlen des Bundesgesundheitsministeriums sind erschreckend: 1,6 Millionen Menschen in Deutschland sind alkoholkrank, 2,9 Millionen haben einen problematischen Medikamenten-Konsum, 1,3 Millionen nehmen illegale Drogen. Hinzu kommen viele weitere Betroffene nicht stoffgebundener Abhängigkeiten: etwa von Spiel- und Internetsucht oder Kaufzwang.

Kein Wunder, dass auch in einem der größten Fachkrankenhäuser für psychische Erkrankungen, am kbo-Inn-Salzach-Klinikum Wasserburg (ISK), die Suchtmedizin traditionell und bis heute eine große Rolle spielt. Auf vier Stationen behandeln hier Ärzte, Therapeuten und Pflegepersonal jährlich über 2000 Patientinnen und Patienten.

Morgens Therapie, abends
wieder heim zur Familie

Neuer Chefarzt ist Dr. Aljoscha Spork (40), ein ausgewiesener Experte in der Suchtmedizin und Neurologie, wie Ärztlicher Direktor Professor Dr. Peter Zwanzger betont. Spork nennt den Kampf gegen die Sucht eine „große gesellschaftliche Aufgabe“. Denn die Behandlungskosten sind enorm, der gesellschaftliche Schaden ist groß. Betroffene sind krank, die sozialen Begleiterscheinungen betreffen oft die ganze Familie und das Umfeld, betont er. Ziel müsse es sein, mehr Menschen zu erreichen und für eine Therapie zu motivieren – in Stadien, in denen eine Umkehr oder möglicherweise sogar eine Abstinenz noch möglich seien.

Auf diesem Weg will das ISK in Zukunft nicht nur auf die stationäre, sondern auch auf teilstationäre und ambulante Angebote setzen, berichtet Zwanzger. „Wir müssen den Behandlungsrahmen an die Lebenswirklichkeit vieler Patienten anpassen“, fordert auch Chefarzt Spork.

Beispiel Alkohol, nach wie vor die Volksdroge Nummer eins. Bei etwa 1,6 Millionen Menschen habe sich die Abhängigkeit manifestiert, der Großteil von ihnen sei jedoch nicht in Behandlung. Das könne viele Gründe haben: Manchen gelinge es, den Schein zu wahren, viele würden eine Abhängigkeit verleugnen, viele aber auch vor einer Therapie zurückschrecken. Vor allem, wenn diese stationär vonstattengehe. Leichter falle es oft, wenn die Behandlung und Betreuung in einer Tagesklinik stattfänden, der Betroffene also in seiner Alltagsstruktur bleiben könne, so die Experten.

Morgens das Haus verlassen und zur Therapie gehen, abends wieder heim zur Familie: Das müsse möglich werden. „Wir sollten uns von dem Gedanken verabschieden, dass wir Suchtpatienten nur stationär betreuen können“, findet auch Zwanzger. Lange Zeit sei dies das Credo gewesen, auch weil die Abhängigkeit oft mit somatischen Erkrankungen einhergehe, ein körperlicher Entzug häufig notwendig sei.

Die Konzentration auf die sogenannte Entgiftung ist nach den Erfahrungen von Spork medizinisch betrachtet jedoch überholt. Die Gefahr, binnen eines Jahres rückfällig zu werden, wenn nicht adäquate Therapien folgen würden, liege bei 95 bis 97 Prozent. „Mit dem Entzug allein ist das Problem noch lange nicht gelöst“, sagt er. Es gehe vielmehr darum, die Wurzeln der Sucht zu erkunden, Strategien für einen besseren Umgang mit belastenden Situationen oder Auslösern für den Griff zur Flasche, zur Tablette oder zur Droge zu erlernen. Das könne unter gewissen Umständen auch teilstationär oder ambulant geschehen.

„Die Angebote zu den
Menschen bringen“

Erster Schritt auf dem Weg raus aus der manifesten Abhängigkeit sei es, die Sucht als Krankheit anzuerkennen. Lange habe sie nicht als medizinisches Problem gegolten, sondern als Charakterschwäche. Mittlerweile sei die Sucht als Krankheit anerkannt, so Spork.

Er weist jedoch auch darauf hin, dass es viele Wege zur Genesung gibt: In intensiven Vorgesprächen mit den Ärzten und Therapeuten sowie dem Pflegepersonal müsse herausgefunden werden, was der Patient brauche: einen stationären Aufenthalt, um Abstand zum persönlichen Umfeld zu bekommen, oder nur für eine Entgiftung und Behandlung der somatischen Folgen, danach eine Therapie auf Station oder in der Tagesklinik. Oder sogar ambulant? Die Übergänge könnten fließend sein, je nach Stadium der Krankheit und Genesungsfortschritt, so Zwanzger.

Die Zeiten der Behandlung nach Schema F sind vorbei, ist auch ISK-Geschäftsführer Dr. Karsten Jens Adamski überzeugt. „Wir müssen unsere Angebote zu den Menschen bringen“, bringt er den Weg des Fachkrankenhauses zu unterschiedlichen Modellen und neuen ambulanten sowie teilstationären Angeboten auf den Punkt.

Niederschwellige
Behandlungen

Psychiatrische Tageskliniken gibt es in Wasserburg, Rosenheim, Freilassing und Ebersberg. Das Angebot soll jetzt weiter ausgebaut werden auch in puncto Suchtbehandlung. Derzeit gibt es 145 tagesklinische Plätze (zehn davon für die Psychiatrie, fünf in der Neurologie) an den fünf Standorten des kbo-Inn-Salzach-Klinikums, betont Adamski. Über 11000 Patienten würden pro Jahr in den Institutsambulanzen betreut.

Suchterkrankungen sind laut Spork die dritthäufigste psychische Erkrankung. Auch hier seien niederschwellige Behandlungen auf ambulanter Basis oder in Tageskliniken ein wichtiger Schritt. Auch beim Therapieziel geht es nicht mehr so wie früher nach Schema F. „Grundsätzlich ist natürlich eine nachhaltige, weil dauerhafte Abstinenz das Ziel jeder Therapie“, sagt der Chefarzt. Aber manchmal gehe es auch zuerst einmal um Schadensminimierung, etwa darum, dass ein Betroffener einen kontrollierten Konsum erlernt. „Wir dürfen den Patienten nicht verlieren als Folge eines therapeutischen Über-Ehrgeizes“, findet Zwanzger. „Das Therapieziel gibt erst einmal der Patient vor“, ergänzt Spork.

Ambulante oder teilstationäre Behandlungsangebote sollten Betroffene außerdem erreichen, bevor das Kind quasi in den Brunnen gefallen ist. Manchmal sei es natürlich notwendig, einen Patienten für ein paar Wochen aus seinem Umfeld herauszuholen. Doch eine Therapie in einer Käseglocke könne auch Probleme verschieben. Zurück im Alltag bestehe die Gefahr, rückfällig zu werden. Eine ambulante Therapie beziehe von Anfang an den familiären Kontext mit ein. Schließlich geht es abends heim.

Keine Therapie
mehr nach Schablone

Grundsätzlich gilt in der modernen Suchttherapie laut Spork und Zwanzger: keine Therapie nach Schablone, sondern interdisziplinäre Behandlung. Beispiel Alkoholismus: „Da ist es oft wie bei der Henne und dem Ei“, sagt Spork. „Was war zuerst da: die Depression, die mit Hochprozentigem weggespült werden soll? Oder der Alkohol, von dem man nicht lassen kann und deshalb entwickelt sich eine Depression?“ Und dann gebe es auch noch die vielen somatischen Begleiterkrankungen, die sich einstellen könnten: Probleme mit der Leber, dem Herz-Kreislauf-System, neurologische Komplikationen. Der Fachbereich Suchtmedizin arbeite deshalb eng mit den anderen Fachabteilungen des Psychiatrischen Fachkrankenhauses wie beispielsweise der Neurologie zusammen sowie mit der benachbarten Romed-Klinik.

Zum Jahreswechsel startet auch die Tagesklinik für Suchtpatienten in den Räumlichkeiten des ISK. Bis zu 15 Patienten werden hier aufgenommen. Das ISK behandelt nach Zwanzgers Angaben alle Suchtformen: stofflich wie nicht stoffgebunden. Denn Suchterkrankungen, egal ob durch Konsum von Zigaretten, Alkohol, Medikamenten und Drogen oder durch nicht stoffliche Abhängigkeiten von digitalen Medien oder Kaufzwang, seien die Folge von Strukturen, die alle eins gemeinsam hätten: einen starken Drang nach einer Substanz oder nach einer Verhaltensweise, Kontrollverlust und die Tatsache, dass der Konsum fortgesetzt wird, obwohl er negative Folgen hat.

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