Vogtareuth – Der Widerstand in Vogtareuth ist groß. Und damit sind nicht die widrigen Wetterbedingungen mit starkem Wind, Kälte und Regen gemeint, die am vergangenen Montag herrschten. Vielmehr zeigten die etwa 500 Demonstranten vor der Klinik, wie stark sie von den anstehenden Schließungen mehrerer Fachzentren betroffen sind. Und zwar nicht nur beruflich, sondern auch persönlich.
Schon beim Zusammenfinden für den Demozug am Pfarrheim in Vogtareuth flossen unter den Teilnehmern immer wieder Tränen. Früh an diesem Nachmittag wurde klar: Den Menschen geht es um Arbeitsplätze, aber auch um die Zukunft der medizinischen Versorgung in der Region.
Lebensretter-Geschichte sorgt für Tränen
Unter schrillen Pfiffen und Rufen wie „Wir sind laut, weil ihr uns die Klinik klaut“ zogen die Demonstranten mit ihren Schildern, Bannern und Plakaten zum Parkplatz vor dem Klinik-Eingang. An den Fenstern der Klinik empfingen klatschende und pfeifende Mitarbeiter die Demonstranten. Und auf dem Parkplatz warteten weitere Demo-Teilnehmer. Dort wurde dann den Menschen das Wort überlassen, die besonders eindrücklich schildern konnten, wie wichtig die betroffenen Stationen für sie sind und waren. Wie Dieter Fuchs. Der heute 71-Jährige konnte an diesem Tag nur auf der Demo sprechen, weil ihm im Jahr 2007 in der Schön-Klinik Vogtareuth das Leben gerettet wurde. Er hatte einen Riss in der Aorta und wurde aus der Romed-Klinik für eine Notoperation nach Vogtareuth gebracht. Den ursprünglichen Plan der Ärzte, ihn mit dem Hubschrauber nach München zu bringen, hätte er wohl nicht überlebt. Kurzerhand wurde ein OP-Saal in Vogtareuth frei und Fuchs konnte verlegt werden. Die Entscheidung rettete ihm das Leben.
„Ich war am Leben geblieben und konnte mit meiner Frau zusammen unsere Töchter beim Erwachsenwerden begleiten und kann jetzt teilhaben, wie sich unser anderthalbjähriger Enkel so wunderbar entwickelt“, berichtet Fuchs mit zittriger Stimme auf der Demo-Bühne. Im Publikum fließen wieder Tränen. „Reißt euch endlich mal am Riemen und findet eine Lösung für das ländliche Oberbayern, damit die Versorgungssicherheit dort nicht abnimmt“, ruft Fuchs.
„Und hört damit auf, Fälle zu ermitteln, die nicht gerettet werden können, nur um herauszufinden, wie viele solcher Fälle die Bürgerinnen und Bürger akzeptieren würden. Das ist zynisch.“ Denn damit sei man ganz dicht an einem Preis fürs Leben. „Es gibt Dinge in unserer Welt, die haben keinen Preis – und ein Leben gehört dazu.“
Es geht nicht nur
um die Angestellten
Bei der Demonstration wurde klar, dass es an diesem Tag nicht nur um die Lebensretter in der Klinik ging. Es ging auch um die Patienten. Unter anderem um die jungen Erwachsenen mit schwerer Mehrfachbehinderung, deren Leben in der Schön-Klinik Vogtareuth lebenswerter gemacht wird. Nämlich auf der bundesweit einzigen Station dieser Art, der „Jerwa“. Auch sie soll geschlossen werden. Für Betroffene und deren Familien ein Albtraum. Denn auf der „Jerwa“ werden die Patienten ganzheitlich betrachtet und behandelt. Ein Ansatz, den es sonst nirgendwo in dieser Art gibt.
Marion Linhuber berichtete auf der Demo über ihre Tochter: „Es wurden immer die Symptome behandelt, aber nie die ganze Lea gesehen.“ Sie hat mit Lea bereits erleben müssen, dass es ohne die „Jerwa“ keine adäquate Versorgung gibt. „Jetzt stehen wir hier. Jetzt wird uns unsere warme, beschützende Hülle, die ‚Jerwa‘, genommen“, sagte Linhuber auf der Bühne. Schließlich zog sie ihre Jacke mit der Aufschrift „Jerwa“ aus und stand nur noch im ärmellosen Oberteil im kalten, nassen Wetter. „Jetzt stehen wir hier im Regen“, ruft sie. „Es ist schweinekalt. Wir wissen nicht, wo wir hinsollen. Niemand kann uns das sagen.“
In den Gesichtern der Demo-Teilnehmer zeichnet sich ab, wie emotional das Ende der „Jerwa“ für Betroffene und deren Familien ist. Einige Eltern weinen, andere schütteln immer wieder den Kopf und demonstrieren damit ihre Fassungslosigkeit. Es folgten weitere Reden von Familienangehörigen. Sie schildern, wie für ihre Geschwister oder Kinder in Vogtareuth ein neues, ein besseres Leben begonnen hat. Sei es durch die Neurochirurgie, die „Jerwa“ oder andere Stationen, die zum Jahresende Geschichte sein sollen. Wohin die Familien der „Jerwa“ künftig sollen, kann auch Rosenheims Landrat Otto Lederer (CSU) bei der Demo nicht beantworten. Die Situation rund um die Schließungen beschäftigt ihn bereits seit mehreren Wochen, sagte er. „Ich möchte Ihnen mitteilen, dass mich die Situation massiv bewegt und ich Ihre Ängste und Sorgen durchaus verstehe“, sagt Lederer. Er erklärt aber auch, dass er weder in seiner Funktion als Landrat noch als Aufsichtsratsmitglied bei Romed Einfluss auf Entscheidungen privater Klinikunternehmer hat. Dennoch versuche er, auf das bayerische Gesundheitsministerium Einfluss zu nehmen, welches für die Planung von Krankenhausbetten und Einrichtungen zuständig ist.
Klarheit zumindest
über Brisanz der Lage
Zudem versuche man, bei Romed Kapazitäten aufzubauen für Patienten, die nun im Regen stehen. „Was ich mitgenommen habe in den Gesprächen mit den Vertretern des Ministeriums, ist, dass sie dieses Thema sehr ernst nehmen und dass sie die Brisanz erkennen“, macht Lederer deutlich.
Dass die Schön-Gruppe als privater Klinikbetreiber frei entscheiden kann, welche Stationen sie weiter betreibt und welche nicht, ist den Menschen vor Ort klar. Dennoch möchten sie kämpfen und zeigen, dass die Entscheidungen der Klinikleitung nicht nur Auswirkungen auf die Zahlen haben, sondern auch auf die Menschen in der Region. Wie Dieter Fuchs sagte: „Leben ist unbezahlbar.“ Hinter Fallzahlen stehen Gesichter. Stehen Menschen und Emotionen. Die wurden bei dieser Demo sichtbar.