Vogtareuth – Es fing mit einer verzweifelten Frage an: „Wie könnt Ihr uns allein lassen?“ Dann komponierte Tamara zusammen mit Musiktherapeut Franz Kühne für die Aktion „Jerwa muss bleiben“ einen Song. Schließlich ging sie in die Offensive und schrieb den Landrat direkt an. Im Namen aller Patienten der Station für junge Erwachsene mit neuropädiatrischen und neurologischen Erkrankungen und deren Folgen (Jerwa) an der Schön-Klinik in Vogtareuth: „Sehr geehrter Herr Lederer. Ich bitte Sie, schnellstmöglich eine politische Lösung für den Erhalt unserer Jerwa-Station zu finden. Wir sehen Sie als geeigneten Mann. Bitte kümmern Sie sich um unser Anliegen!“ Vielleicht war es ein Zufall, vielleicht aber auch nicht: Nur einen Tag später, am 24. Oktober, versprach Otto Lederer in einem Video auf Instagram, sich dafür einzusetzen, dass „Patienten so besonderer Einrichtungen wie der Jerwa-Station auch in Zukunft gut versorgt werden“.
Tamara Davtyan war eine der ersten Patientinnen der Station, die 2021 an der Schön-Klinik aufgebaut wurde. Die Behandlung in Vogtareuth hat ihr Leben verändert. Die Ärzte korrigierten Fehlbehandlungen, passten Medikamente, Orthesen und Bandagen an. Sie halfen ihr, wieder gut laufen zu können. Seitdem kommt die 32-Jährige einmal im Jahr von Darmstadt nach Vogtareuth, um ihre Lebensqualität weiter zu verbessern. „Obwohl ich knapp 450 Kilometer entfernt wohne, nehme ich jeden Kilometer gern in Kauf, um vom Jerwa-Team behandelt zu werden.“
Als sie 1993 in der 24. Schwangerschaftswoche viel zu früh zur Welt kam, wog sie gerade mal 550 Gramm. Damals war die Versorgung von extrem frühgeborenen Säuglingen noch deutlich riskanter als heute. Die Überlebenschancen lagen bei 20 bis 40 Prozent. Heute sind sie mit 70 Prozent weitaus höher.
Tamara hat sich ins Leben gekämpft. Und sie lebt mit all den Einschränkungen, die die frühe Geburt mit sich brachten: mit spastischen Lähmungen, schmerzenden Krämpfen, mit Skoliose, Problemen mit der Feinmotorik, beim Sprechen, Gehen oder der Konzentration. In der Pubertät kam rheumatoide Arthritis dazu – und mit ihr noch mehr Schmerzen und Jahre im Rollstuhl. Trotzdem hat Tami ihre Ausbildung zur Bürokauffrau geschafft.
Mit einem Handicap zu leben, ist nicht einfach. „Ich hatte schon immer zu kämpfen“, sagt sie. Viele Menschen wie Tamara leiden unter Ängsten und Unsicherheiten, weil sie von den „Gesunden“ nur auf ihre Defizite reduziert werden. Nicht aber bei den „Jerwas“: In Vogtareuth geht es um die Stärken eines Menschen. „Die Jerwas sind herzlich und cool. Sie ermutigen uns, die Welt nicht so schwarz zu sehen.“ Und so hat Tami, wie viele JerwaPatienten in Vogtareuth, Selbstvertrauen gewonnen: „Die Menschen dort geben uns das Gefühl von Sicherheit und unterstützen uns, wo sie nur können. Sie nehmen sich Zeit, um unsere Symptome in den Griff zu bekommen. Sie stehen uns mit Rat und Tat zur Seite. Das Jerwa-Konzept und das Jerwa-Team sind einmalig.“
Tamara ist dankbar, dass sie die Jerwa gefunden hat. Als sie von der drohenden Schließung erfuhr, war sie fassungslos: „Ich konnte es einfach nicht glauben. Das wäre für viele Patienten mit komplexen Erkrankungen ein herber Verlust. Es darf nicht sein, dass wirtschaftliche Interessen über das Wohl kranker Menschen gestellt werden.“
„Damit man in Würde
erwachsen werden kann“
Sie hat eine enge Bindung zum Jerwa-Team aufgebaut. Wenn sie Sorgen hat, schreibt sie eine E-Mail und bekommt eine Antwort – oft sogar nach Feierabend. „Das schätze ich sehr, denn das ist nicht selbstverständlich.“ Auch Musiktherapeut Franz Kühne unterstützt sie weiter. Gemeinsam haben sie einen neuen Jerwa-Song aufgenommen. Der Text ist von Tami. Sie erhebt ihre Stimme für alle Patienten: „Rettet die Jerwa, hört uns an, damit man in Würde erwachsen werden kann.“ In ihren Instagram-Posts für den Erhalt der Jerwa-Station hat Tamara schon mehr als 6000 Menschen erreicht. Mit ihrer eindringlichen Bitte um Hilfe auch Landrat Otto Lederer. Große Hoffnungen verband sie mit dem runden Tisch, der am 31. Oktober stattfand. In einer Presseerklärung hatte die Schön-Klinik-Gruppe danach versichert, dass „für die Patientinnen und Patienten der Jerwa die medizinische Versorgung auch nach den strukturellen Veränderungen gesichert“ bleibe. Das Unternehmen versprach, individuelle Anschlusslösungen für alle Betroffenen zu organisieren, „von denen nur rund zehn Prozent überhaupt in Stadt und Landkreis Rosenheim ansässig sind“.
Tamara gehört zu den Jerwa-Patienten, die nicht im Landkreis Rosenheim leben. Ob auch sie zu den „Beteiligten“ gehört, mit denen die Klinik nach eigenen Worten „im persönlichen Austausch“ steht und nach „individuellen Lösungen“ sucht, weiß sie nicht. Bislang hat sich noch niemand bei ihr gemeldet, um ihr dabei zu helfen, eine Anschlusslösung zu finden.
Eine Sprecherin der Schön-Klinik teilte auf OVB-Anfrage mit, dass die Neurologie am Standort Vogtareuth zum Jahresende eingestellt werde, weshalb in diesem Bereich keine Anschlussbeschäftigungen angeboten werden. Für die Jerwa gibt es in Vogtareuth keine Zukunft.
Was das für Tamara bedeutet? „Ich bin schockiert. Es ist ein heftiger Schlag ins Gesicht.“ Wie all die anderen Jerwa-Patienten weiß sie nicht, wie es weitergehen soll. Sie befürchtet, dass es wieder so werden könnte wie vor 2021, bevor es die Jerwa gab. „Hier in meiner Region gibt es keine adäquate stationäre Versorgung. Deshalb bin ich ja jedes Jahr 450 Kilometer nach Vogtareuth gefahren.“
Neues Versprechen
gibt Hoffnung
Eine letzte Hoffnung bleibt: Landrat Otto Lederer hat sich vor wenigen Tagen – am 3. November – erneut mit einer Videobotschaft auf Instagram zu Wort gemeldet. Darin zeigt er sich beeindruckt von der Demo vor der Schön-Klinik in Vogtareuth, von den Patienten, Angehörigen und Mitarbeitern der Jerwa. Und er verspricht, dass er sich in Gesprächen mit dem Gesundheitsministerium und den Verantwortlichen der Klinik dafür einsetzen werde, dass Lösungswege für die Menschen gefunden werden, die bisher bei Jerwa Hilfe fanden. Tamara Davtyan nimmt ihn beim Wort.