Wasserburg – Claudia Flossmann ist sauer. Die 70-Jährige sitzt in ihrem Haus in Wasserburg. Vor ihr liegt ein Zeitungsartikel, in dem es um eine mögliche Abschaffung des Pflegegrades 1 geht. „Das wäre eine Unverschämtheit“, sagt die ehemalige Lehrerin. Bereits im September dieses Jahres kam die Diskussion um Einsparungen bei der Pflegeversicherung in der Bundesregierung auf.
Entlastungsbetrag
von 131 Euro im Monat
Im Fokus stand damals die potenzielle Streichung des Pflegegrades 1, der Betroffenen unter anderem einen Entlastungsbetrag von 131 Euro monatlich gewährt. Diese mögliche Kürzung ist zwar vom Tisch, der Ärger über die Tatsache, dass die Streichung angedacht war, jedoch noch immer bei vielen Betroffenen zu spüren.
„Das ist ohnehin für den Einzelnen nicht viel“, sagt Claudia Flossmann. Die 70-Jährige, die zusammen mit ihrem Mann Peter (71) in Wasserburg lebt, leidet schon länger an der Krankheit Osteoporose, bei der die Knochen porös werden und leicht brechen. Die Krankheit entwickelte sich bei ihr vermutlich in den Wechseljahren, wie Flossmann erzählt. Das Heimtückische daran sei, dass Osteoporose meist viele Jahre lang unentdeckt bleibe.
Plötzlich knickte
der Knöchel um
„Eines Tages bin ich aus dem Bett aufgestanden und plötzlich ist mein Knöchel umgeknickt“, erinnert sich Flossmann. Sie musste operiert werden. „Dabei haben die Ärzte gemerkt, dass die Knochen gesplittert sind.“ Seitdem ist die 70-Jährige stark eingeschränkt, wie sie erzählt. Das Gehen fällt ihr schwer und das Risiko, dass sie stürzt, ist hoch. „Besonders bei körperlichen Aktivitäten wie Putzen“, betont Flossmann. Deshalb empört sie die Idee der Bundesregierung auch so. „Manche Menschen brauchen diese 131 Euro, um davon eine Reinigungskraft zu bezahlen, weil sie selbst nicht mehr putzen können“, so die Wasserburgerin.
Tatsächlich wird der Entlastungsbetrag von 131 Euro oft genau dafür genutzt. Das sagt zumindest Johannes Weidinger, Abteilungsleiter des Bereichs Wohnen und Pflege beim BRK-Kreisverband Rosenheim. „Da die Kosten für Kurzzeit-, Tages- und Nachtpflege das Budget in aller Regel erheblich übersteigen, wird der Entlastungsbetrag meist für niederschwellige Angebote verwendet“, erklärt er.
Darunter fallen ihm zufolge eben haushaltsnahe Dienstleistungen wie Kochen, Putzen, Waschen und Einkaufen. „Aber auch Begleitung und Unterstützung beim Einkaufen oder bei Arztbesuchen“, so Weidinger weiter. Außerdem Besuchs- und Betreuungsleistungen für einsame oder demenziell veränderte Personen. Weidinger zufolge reicht das Budget in der Regel ohnehin nur für ein bis zwei Stunden Putzen pro Woche. Die Wasserburgerin Claudia Flossmann hat derzeit keinen Pflegegrad. Das liege aber nur daran, dass ihr Mann noch sehr fit sei und genau diese Aufgaben übernehmen könne. „Er ist mein Lebensretter und unterstützt mich, wo immer es geht“, betont Flossmann. Sie ist sich aber sicher: Hätte sie ihren Mann nicht, könnte sie hier, in ihrem Haus in Wasserburg, nicht mehr alleine leben.
Johannes Weidinger vom BRK Rosenheim zufolge soll das monatliche Budget von 131 Euro auch dazu dienen, die pflegenden Angehörigen zu entlasten. Zudem kann die Pflegekasse für eine Wohnraumanpassung aufkommen. Die Kosten dafür würden bis zu 4.180 Euro von der Pflegekasse übernommen, sagt er.
Dietrich Mehl ist Kreisgeschäftsführer des Sozialverbands VdK der Kreisgeschäftsstelle Rosenheim. Er betont, dass die Pflegestufe 1 außerdem die Selbstständigkeit der Betroffenen durch niederschwellige Leistungen erhalten soll. „Sie ermöglicht, möglichst lange in den eigenen vier Wänden zu wohnen, statt in ein Pflegeheim umzuziehen“, erklärt Mehl.
Auch er weist darauf hin, dass der Pflegegrad die pflegenden Angehörigen entlasten kann. „Denn rund 85 Prozent der pflegebedürftigen Menschen in Deutschland werden zu Hause gepflegt“, betont er.
Auch für Hausnotrufsysteme, digitale Pflegeanwendungen oder den Bezug einer Wohngruppe oder stationären Pflegeeinrichtung gebe es Zuschüsse. „Je nach konkretem Vorhaben der Regierungskoalition könnten diese Leistungen ganz oder teilweise wegfallen“, so Weidinger. Das wiederum beeinflusst die Dienste des BRK Rosenheim. „Viele der Kundinnen und Kunden unseres ambulanten Pflegedienstes greifen auf den monatlichen Entlastungsbetrag zurück, um unsere Leistungen zu finanzieren“, erklärt der Abteilungsleiter.
„Extreme Strenge“ gegenüber Betroffenen
Sollte der Betrag gestrichen werden, hänge es von der finanziellen Lage der Kunden ab, ob sie sich die Dienste des BRK noch leisten könnten.
„Die politischen Vorschläge zeugen von extremer Strenge gegenüber den Schwachen und Schwächsten in unserer Gesellschaft und vor allem einer Ignoranz gegenüber den Realitäten in unserem Lande“, sagt Dietrich Mehl vom VdK. Eine Streichung würde vielen Senioren die dringend benötigte Alltagshilfe nehmen, mit deren Unterstützung sie ihren Lebensabend in den eigenen vier Wänden verbringen könnten.
„Damit können sie rechtzeitig besser versorgt werden, weil in den niedrigen Pflegegraden Prävention und Rehabilitation in den Fokus rücken“, so Mehl weiter. Dadurch sei es möglich, schwere Pflegebedürftigkeit hinauszuzögern oder ganz zu verhindern. „Dass Pflegebedürftige in vielen Fällen dadurch länger selbstständig zu Hause leben, ist aus Sicht des VdK eine positive Entwicklung“, betont der Kreisgeschäftsführer. Claudia Flossmann kann mithilfe ihres Mannes ebenfalls noch daheim wohnen. Sie weiß aber aus eigener Erfahrung, wie unsicher man nach einem Sturz auf den Beinen ist. Erst vor ein paar Wochen sei sie in der Küche wieder hingefallen. „Das kommt aus dem Nichts. Auf einmal knicken die Beine weg. Das macht einem natürlich Angst“, sagt sie. Im Winter könne sie nur selten vor die Tür gehen, weil die Sturzgefahr so groß sei. Und die Folgen eines Sturzes könnten immens sein: „In meinem Alter einen Oberschenkelhalsbruch zu erleiden, ist ja fast tödlich“, sagt Flossmann. Mittlerweile hat sie für draußen einen Rollator, der sie beim Gehen unterstützt.
Im Haus hält sie sich fest, wo es geht. Beim Treppensteigen begleitet sie ihr Mann. „Wäsche waschen, mich umziehen, das kann ich ja alles noch“, erzählt Flossmann. Das will sie auch weiterhin machen, solange es geht. Aber für die Fortbewegung dazwischen braucht sie eine Begleitung. Sie kann dabei auf ihren Mann Peter zählen. „Viele Leute haben so jemanden nicht“, sagt Flossmann. Deshalb sei es so wichtig, dass die niedrigste Pflegestufe erhalten bleibe und nicht weggekürzt werde.
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