Eine vergessene Widerstandskämpferin

von Redaktion

Der Name Weißensteiner steht für Widerstand gegen NS-Diktatur und Krieg. In Fürstenwalde erinnert ein Stolperstein an Richard Weißensteiner. Seine Frau Johanna bleibt in ihrer Heimat Aschau weiter ohne Gedenken. Ihre Angehörigen sind tief betroffen.

Ein Weihnachtsfest in Aschau Anfang der 1960er-Jahre: Richard Stegherr mit seiner Mutter Johanna Weißensteiner.

Aschau – „Es ist ein Schlag ins Gesicht der Hinterbliebenen“, sagt Natascha Mehler. Die Vorsitzende des Aschauer Heimat- und Geschichtsvereins ist enttäuscht, dass der Gemeinderat vorerst keine Stolpersteine für die Opfer des Nationalsozialismus verlegen will. Es sei gut, wenn sich eine Gemeinde über ihre Form der Erinnerungskultur Gedanken mache. Was sie allerdings nicht nachvollziehen kann, ist der unsensible Umgang mit den Angehörigen der NS-Opfer, die mit Stolpersteinen gewürdigt werden sollten.

Angehörige unterschreiben Einverständniserklärung

Am 3. November hatte die „Initiative Erinnerungskultur – Stolpersteine für Rosenheim“ den Antrag auf die Verlegung von Stolpersteinen in Aschau beantragt. Der Antrag wurde vom Heimat- und Geschichtsverein unterstützt und war in der Gemeinderatssitzung am 18. November auf der Tagesordnung.

Man verständigte sich darauf, den Antrag im nichtöffentlichen Teil vorzuberaten und in der Sitzung am 9. Dezember erneut auf die Tagesordnung zu setzen. Vor einer Entscheidung, so die Forderung der Räte, sollten aber die Einverständniserklärungen aller Hinterbliebenen eingeholt werden. Und so bestätigte auch der Aschauer Richard Stegherr (77) mit seiner Unterschrift, dass er es begrüßt, dass das Lebenswerk seiner Mutter Johanna Weißensteiner mit einem Stolperstein gewürdigt wird.

Richard und Ingrid Stegherr wohnten der Sitzung am 9. Dezember bei und haben sie nach der Debatte empört verlassen. Ihre Enttäuschung können sie kaum in Worte fassen. „Wir waren überrascht, dass es zu den Stolpersteinen nicht einen klaren, sondern vier Beschlussvorschläge gab, und darunter auch eine fertige Alternativlösung“, berichten sie. „Die Diskussion im Gremium war für uns kaum zu ertragen.“

Johanna Weißensteiner wurde in Aschau geboren

Seine Mutter Johanna Weißensteiner wurde 1910 in Aschau geboren. Das Schicksal der Kommunistin wird in der wissenschaftlichen Arbeit „Nationalsozialismus auf dem Dorf“ beleuchtet. Autorin Dr. Maria Anna Willer konnte dafür auf Recherchen von Ingrid Stegherr (76) zurückgreifen, die schon 2013 ein Buch über das Leben und Wirken ihrer Schwiegermutter veröffentlicht hat.

Johanna Weißensteiner war Aschauerin. Ihr Vater, Ottmar Stegherr, arbeitete als Schreiner in der Brauerei Hohenaschau. Johanna ging in Niederaschau zur Schule, lernte Damenschneiderin und arbeitete später als Kellnerin. 1935 verliebte sie sich in Richard Weißensteiner. Das Paar ging nach Berlin, heiratete im Mai 1937, zog aufgrund der Verfolgung durch das NS-Regime mehrfach um und lebte unter anderem in Fürstenwalde an der Spree. 

In Berlin engagierte sich das Ehepaar in der antifaschistischen Widerstandsgruppe, die von den Nationalsozialisten „Die Rote Kapelle“ genannt wurde. Johanna und Richard Weißensteiner waren Mitstreiter von Hans und Hilde Coppi, Arvid Harnack und Harro Schulze-Boysen. Sie kämpften gegen das Hitler-Regime, verfassten illegale Schriften, verteilten Flugblätter, prangerten die Misswirtschaft der Nazis im eigenen Land, Millionen Kriegstote und deutsche Kriegsverbrechen an. Ihr Ziel war das Ende des Zweiten Weltkrieges.

Im Sommer 1942 wurde die Gruppe verraten. Anfang September versteckten Hanni und Richard Weißensteiner noch ihren Genossen Albert Hößler in ihrer Wohnung. Am 16. September 1942 fielen sie selbst in die Hände der Gestapo. Mehr als 130 Mitglieder ihrer Widerstandsgruppe wurden verhaftet. 55 von ihnen von Reichskriegsgericht und Volksgerichthof zum Tode verurteilt, darunter auch Richard Weißensteiner. Er wurde am 13. Mai 1943 im NS-Gefängnis Berlin-Plötzensee durch das Fallbeil ermordet.

14 Monate im
Gefängnis Berlin-Moabit

Seine Frau Johanna Weißensteiner wurde im Frauen-Gefängnis Moabit monatelang inhaftiert. Jahrzehnte später hielt Ingrid Stegherr das sogenannte „Gestapo-Album“ in ihren Händen, das für die „Rote Kapelle“ angelegt worden war. „Es enthält 108 erkennungsdienstliche Fotos, die von der Gestapo nach der Verhaftung aufgenommen wurden“, berichtet sie. „Auf den Fotos sind Flecke in ihrem Gesicht zu sehen, was vermuten lässt, dass auch sie gefoltert wurde.“

Der Vater von Johanna Weißensteiner war ein angesehener Bürger in Aschau, von 1933 bis 1945 sogar Mitglied des Gemeinderates. „Er hatte Bittbriefe und Gnadengesuche geschrieben und sich für seine Tochter verbürgt“, berichtet Ingrid Stegherr. Im Dezember 1943 wurde Johanna, damals 33 Jahre alt, aus der Haft entlassen. „Unter der Bedingung, dass sie auf das Berggehöft ihrer Eltern nach Hohenaschau zurückkehrt, unauffällig lebt und sich nicht mehr politisch engagiert“, erzählt ihr Sohn Richard.

Frauenrechtlerin
und Friedensaktivistin

Johanna Weißensteiner lebte bis zu ihrem Tod im Jahr 1969 in Aschau. „Sie arbeitete im Flüchtlingsamt in Rosenheim und in den orthopädischen Werkstätten in Aschau“, berichtet ihr Sohn. Sie war weiterhin politisch aktiv, wurde Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), engagierte sich im Demokratischen Frauenbund Deutschlands und in der Friedensbewegung.

1951 sagte Johanna Weißensteiner im Verfahren gegen Manfred Roeder aus. Er galt als „Bluthund Hitlers“ und war als Ankläger des Reichskriegsgerichts für die Todesurteile gegen die Mitglieder der „Rote Kapelle“ mitverantwortlich. Auch für das Todesurteil gegen ihren Mann Richard Weißensteiner. Doch das Verfahren gegen den Nazirichter wurde einstellt. „Roeder wurde nie verurteilt und lebte bis 1976 unbehelligt in Glashütten von einer stattlichen Pension als Generalrichter“, berichtet Dr. Maria Anna Willer.

Das war nicht das einzige Unrecht, das die Widerstandskämpferin Johanna Weißensteiner verkraften musste. Das Gehöft der Familie Stegherr lag nicht weit entfernt vom Zweitwohnsitz von Franz Hayler. „Dieser war unter der NS-Herrschaft bis zum Staatssekretär und stellvertretenden Reichswirtschaftsminister aufgestiegen. Als Leiter der Reichsgruppe Handel war er im Freundeskreis Himmler gut vernetzt mit Vertretern der Wirtschaft“, erklärt Willer.

Im gemeindlichen Umfeld der einstigen Widerstandskämpferin Weißensteiner lebten aber noch weitere Täter. „Franz Halder, einer der einflussreichsten militärischen Funktionäre des NS-Regimes. Er hat als Generalstabschef des deutschen Heeres die Feldzüge gegen Polen, Frankreich und die Sowjetunion geplant und trägt damit die Mitverantwortung für Millionen Tote“, informiert Dr. Willer. Oder Hermann Kriebel, Nationalsozialist und Hitler-Vertrauter, mit seiner Ehefrau und den Söhnen General Wolfram Kriebel und Oberst Rainer Kriebel. Ebenso Alexander Freiherr von Wangenheim, Mitglied des Reichstags, SA-Standartenführer und Leiter der Reichsbauernhochschule.

„Johanna Weißensteiner erlebte eine Täter-Opfer-Umkehrung, musste mit ansehen, wie Täter unbehelligt weiterlebten und das Netzwerk alter NS-Funkionäre auch nach dem Ende der NS-Diktatur weiter funktionierte“, macht die Wissenschaftlerin klar.

1955 wurde die Bundeswehr gegründet. „Während sich die Pazifistin Weißensteiner gegen eine Remilitarisierung der BRD einsetzte, engagierte sich Franz Hayler im sogenannten Naumann-Kreis für einen Putsch zum Umsturz der jungen Demokratie“, erklärt Willer.

KPD wird 1958 ein
zweites Mal verboten

Johanna Weißensteiner war einer zweiten Verfolgung ausgesetzt. Die Mitglieder der „Roten Kapelle“ wurden in der BRD als „kommunistische Vaterlandsverräter“ diffamiert, während sie in der DDR als Verfolgte des Naziregimes anerkannt waren.

Die KPD, die direkt nach der Machtübernahme der NSDAP im Februar 1933 verboten worden war, wurde in der Bundesrepublik 1958 erneut verboten. Kommunisten war es fortan nicht mehr erlaubt, im öffentlichen Dienst zu arbeiten. „Dieses Unrecht und die Sorge, dass sich die Geschichte wiederholen könnte, hat meine Mutter nicht mehr ausgehalten“, erinnert sich Richard Stegherr. Er war 20 Jahre alt, als sie 1969 im Alter von 59 Jahren den Freitod wählte.

Fürstenwalde erinnert
an Richard Weißensteiner

Johanna Weißensteiner suchte mit ihrem Mann Richard während der Verfolgung durch das Nazi-Regime unter anderem auch in Fürstenwalde an der Spree Zuflucht. Schon seit 2006 erinnert dort ein Stolperstein an das Leben von Richard Weißensteiner.

2009 beschloss der Bundestag ein Gesetz zur Aufhebung der NS-Unrechtsurteile. Erst 64 Jahre nach dem Krieg wurden die Mitglieder der „Roten Kapelle“ in ganz Deutschland als Widerstandskämpfer anerkannt.

Im November 2025 stellte die „Initiative Erinnerungskultur“ den Antrag, mit einem Stolperstein an die Kommunistin, Widerstandskämpferin, Friedensaktivistin und Frauenrechtlerin Johanna Weißensteiner zu erinnern. Er sollte vor der Preysing-Grundschule verlegt werden. „Ich habe mich über diese Ehrung meiner Mutter wirklich sehr gefreut“, erzählt ihr Sohn Richard Stegherr. Das Argument von Gemeinderäten, dass dann jeder auf ihrer Erinnerung „herumtrampeln“ würde, teilt er nicht. „In Kirchen gehen wir ja auch über die Grabplatten historischer Persönlichkeiten und stören uns nicht daran, sondern interessieren uns für diese Menschen.“

Wie viel Zeit muss
noch vergehen?

Der Gemeinderat hat sich gegen Stolpersteine entschieden. Zumindest vorerst. Er will sich ausreichend Zeit nehmen, um für die Gemeinde eine eigene Erinnerungskultur zu entwickeln. „Die Art und Weise der Diskussion hat bei uns einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen“, beschreiben Ingrid und Richard Stegherr. Nicht nur, weil sie sich fragen, wie viel Zeit für ein würdiges Gedenken noch vergehen muss. Auch wegen der Idee, auf dem Aschauer Friedhof einen zentralen Gedenkort für alle Opfer zu errichten. „Dem werden wir auf keinen Fall zustimmen, denn dort liegen auch Täter.“

Auch Natascha Mehler, die Vorsitzende des Geschichts- und Heimatvereines Aschau, ist tief betroffen. Vor allem, weil die Entscheidung „ein Schlag ins Gesicht der Hinterbliebenen der NS-Opfer“ ist. Aber auch, weil „man sich bewusst machen muss, wie viel ehrenamtliche Arbeit hinter dem Antrag der Initiative Erinnerungskultur steckt“. Die jahrzehntelangen Recherchen von Dr. Maria Anna Willer. Die aufwendige Suche nach den Angehörigen der Opfer. Das Einholen ihrer schriftlichen Einverständniserklärungen. Die Nachfragen bei Paten. Das Nachdenken über geeignete Gedenkorte. Die Absprachen mit der Künstlergemeinschaft von Gunter Demnig. „Im Mai ist er in der Region und verlegt in Surberg einen Stolperstein“, erklärt Dr. Maria Anna Willer. Im Mai 2026 wäre er auch nach Aschau im Chiemgau gekommen.

Genau diese minutiöse Vorbereitung und eine Zeitschiene von sechs Monaten von der Beantragung bis zur Verlegung ist es, an der sich der Aschauer Gemeinderat stört. „Wir möchten selbst und ohne zeitlichen Druck über eine lebendige und würdige Erinnerungskultur in unserer Gemeinde nachdenken“, sagt Bürgermeister Simon Frank gegenüber dem OVB. Dazu wolle man mit dem Geschichts- und Heimatverein sowie anderen externen Fachleuten irgendwann auch das Gespräch suchen. „Wir stehen gern beratend zur Seite“, kündigt Natascha Mehler an. „Ich freue mich auf neue Vorschläge, wie die Gemeinde ihrer Opfer des Nationalsozialismus gedenken will.“

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