Den Anschluss an die Welt verpasst

von Redaktion

Ein altes Zollhaus in Windshausen zwischen Nußdorf am Inn und Erl in Österreich sollte einst ein Bahnhof werden. Es erzählt die Geschichte einer Bahnlinie, die nie gebaut wurde, und von Hoffnungen, die sich nicht erfüllten. Warum nun dennoch die Bahn kommen könnte.

Nußdorf/Erl – Wenn man heute das alte Zollhaus in Windshausen am Grenzübergang zwischen Bayern und Tirol betrachtet – das massive, zweieinhalbgeschossige Gebäude mit seinen Segmentbogenfenstern und dem Flachsatteldach – dann ahnt man nicht auf Anhieb, dass es eigentlich als Bahnhof geplant war. Und doch erzählt es von einer Eisenbahnlinie, die nie kam: Rosenheim – Nußdorf – Windshausen – Erl: Orte am östlichen Innufer, die einst Hoffnung auf ein neues Zeitalter hegten, auf wirtschaftlichen Aufschwung, auf Anschluss an die Welt.

Alles schien möglich, als Mitte des 19. Jahrhunderts die ersten Planungen für eine Bahnverbindung von Rosenheim nach Kufstein Form annahmen. Die Gleise sollten auf der orografisch rechten Seite des Inns verlaufen, durch das Inntal über Rohrdorf, Nußdorf und eben Windshausen. Der bayerisch-österreichische Staatsvertrag vom 21. Juni 1851 hatte gerade erst den Bau einer durchgehenden Verbindung von München nach Innsbruck beschlossen. Österreich versprach den Lückenschluss Kufstein–Innsbruck, Bayern den Bau der Strecke München–Rosenheim–Kufstein.

Bereits 1838 hatte Alois von Negrelli, jener geniale Ingenieur, der später den Suezkanal mitgestaltete, ein Gutachten über den Eisenbahnzug durch das Inntal vorgelegt. Er hielt die Gegend für „reich an Naturprodukten“ und „so bevölkert, dass ich an ihr Gedeihen gar nicht zweifeln kann“.

Tatsächlich begann man in Windshausen bald mit dem Bau. Der Bahnhof war bereits geplant, das Gelände gekauft, der Standort festgelegt. Man hatte Großes vor – nicht nur ein einfacher Haltepunkt, sondern eine grenzüberschreitende Anlage mit Depot, Werkstatt, Wechselloks. Denn an den damaligen Grenzbahnhöfen zwischen Bayern und Österreich wurde die Lok gewechselt, Personal getauscht, Fracht verzollt. Eine eigene kleine Welt aus Schuppen, Wasserkränen und Drehscheiben.

Doch dann kam alles anders. Die Strecke wurde nicht gebaut. Stattdessen rollten die ersten Züge ab 1858 über Brannenburg, Oberaudorf und Kiefersfelden. Die Gründe waren vielfältig – und typisch für die Zeit. Die Route über Brannenburg war landschaftlich einfacher zu bauen, sie erforderte weniger aufwändige Eingriffe in die Topografie. Die Hanglagen rund um Nußdorf galten als kritisch, das Innufer als hochwassergefährdet.

Auch politisch wurde taktiert. Die österreichische Seite hatte zwar ein Interesse an der Trasse über Erl, doch Bayern wollte sich die Entscheidungshoheit nicht aus der Hand nehmen lassen. Ein Zeichen für Eigenständigkeit, vielleicht auch ein wenig Stolz. Hinzu kamen strategische Überlegungen: Die Bahnverbindung galt als potenzieller Aufmarschweg aus Bayern, deshalb wurde bei Kufstein sogar ein Sperrfort errichtet – ausgestattet mit 35 Geschützen und 600 Mann Besatzung. 1880 war es überflüssig geworden, wurde billig verkauft und abgerissen.

Die wirtschaftlichen Vorteile der Westtrasse taten ihr Übriges. Brannenburg, Kiefersfelden und Oberaudorf lagen bereits an etablierten Handelswegen und verfügten über eine gewisse Infrastruktur. Windshausen hingegen blieb auf der Strecke – im wahrsten Sinne des Wortes. Der geplante Bahnhof wurde nie ein Bahnhof. So wurde er zum Zollhaus. Und blieb es bis weit ins 20. Jahrhundert. Was hätte aus Nußdorf und Erl werden können, hätte die Bahn sie nicht umfahren? Vielleicht Fremdenverkehr, vielleicht kleine Industrien, vielleicht ein anderer Anschluss an die Welt. So aber blieb es bei der Straße, beim Individualverkehr. Erl wurde nie ein Bahnhofsort, sondern Festspielgemeinde.

Erst 1927 kam mit der Elektrifizierung der Strecke ein neuer technischer Impuls. Später, 1982, wurde die Rosenheimer Kurve gebaut, um den Kopfbahnhof zu umgehen – wichtig für den wachsenden internationalen Fernverkehr. Der TEE Mediolanum, ein Symbol europäischer Reisekultur, fuhr ebenso auf dieser Achse wie später der ICE von Berlin nach Innsbruck. Doch Erl, Nußdorf und Windshausen sahen davon nur die Rücklichter in der Ferne.

Und nun, rund 180 Jahre nach den ersten Plänen, kommt die Eisenbahn wohl doch – wenn auch ganz anders. Der Brenner-Nordzulauf, eines der größten Infrastrukturprojekte Europas, wird den Abschnitt Rosenheim–Kufstein modernisieren. Diesmal tief unter der Erde. Ohne Halt. Ohne Anschluss. Ohne Bahnhof. Die Züge werden in Zukunft durch Tunnel gleiten, unter Nußdorf und Erl hindurch, ohne dass es jemand bemerkt – außer vielleicht an der Vibration in der Kaffeetasse. Eine Trasse, die einst regionales Zukunftsversprechen war, wird jetzt zum Bestandteil einer europäischen Hochleistungsader.

Das alte Zollhaus in Windshausen steht noch immer da. Und erzählt – aus Stein und Putz – von einer Bahnlinie, die beinahe kam.

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