Rosenheim/Landkreis – Donnerstag, 10 Uhr, Tafel-Einkaufstag in Rosenheim: In der Westermayerstraße stehen Dutzende Menschen Schlange. Als gebe es etwas umsonst. Gibt es ja auch, fast jedenfalls: „Einen Euro pro Person, maximal vier Euro für die ganze Familie zahlt man für einen Einkauf“, berichtet Elisabeth Bartl (65), Leiterin der Tafel. Im Regal liegen in der Regel Spenden von Supermärkten, Bäckereien oder Einzelhändlern: Ware, die qualitativ einwandfrei ist, aber nicht mehr verkauft werden kann.
So bauen die Tafeln jede Woche eine Brücke zwischen Überfluss und Mangel. Etwa 100 bis 130 Kunden bedienen sich in der Westermayerstraße. Gut die Hälfte, so schätzt Bartl, sind Migranten. Zusammen mit 50 ehrenamtlichen Helfern sorgt sie dafür, dass bei der Ausgabe alles glatt läuft und alle zum Zug kommen – Einheimische wie Flüchtlinge.
Manche wollten nicht mit Flüchtlingen Schlange stehen
Der umstrittene Aufnahmestopp für Ausländer bei der Tafel Essen (wir berichteten) beschäftigt auch die Mitarbeiter der heimischen Tafeln. Dass es so etwas auch in der Region geben könnte, ist für sie aber undenkbar. Der Tenor: „Das kommt nicht in Frage, für uns sind alle Menschen gleich.“
Nennenswerte Schwierigkeiten mit Asylbewerbern gibt es nicht. Kleinere Missverständnisse beim Ersteinkauf erledigen sich laut Bartl von selbst, sobald die Flüchtlinge beim zweiten oder dritten Besuch die Abläufe kennen. Schlechtes Benehmen kommt vor, hat aber mit der Herkunft nichts zu tun. „Das gibt es hüben wie drüben“, sagt sie. Und: „Auch manche Einheimische müssen das Teilen lernen, zumal hier niemand ohne gut gefüllte Taschen rausgeht.“
Allen könne man es ohnehin nicht recht machen. Seit dem Flüchtlingsherbst 2015 sind Afrika und Asien in den Tafeln stärker vertreten. Das hat ein paar Stammkunden nicht gepasst. Bartl: „Sie sagten, dass sie sich nicht mit Flüchtlingen in eine Reihe stellen – und blieben weg.“
Im Chiemgau schätzt Regina Seipel, Zentrumsvertretung der Caritas in Prien, das Verhältnis der „Tafel-Haushalte“ von Einheimischen und Migranten auf vier zu eins. Jeden Freitag werden in Prien und Bad Endorf 220 Bedürftige versorgt. „Die Atmosphäre ist entspannt, im Wartezimmer gibt es Kaffee“, berichtet sie. Wie in Rosenheim sind unter den Tafelhelfern auch Migranten.
Einlass-Nummern oder getrennte Ausgabe
Wer zuerst kommt, mahlt zuerst: Das gilt für Prien und Bad Endorf. Es werden Zettel mit Nummern verteilt. Je früher man dran ist, umso schneller darf man sich bedienen. In Rosenheim greift dagegen das Zufallsprinzip: Die Einlass-Nummern werden erst gemischt und dann verdeckt gezogen.
Auch in Bad Aibling läuft alles reibungslos. Dort gibt es aber verschiedene Ausgabetage für Einheimische (Freitag) und Flüchtlinge (Donnerstag). Das soll vermeiden, dass sich Altkunden benachteiligt fühlen, sagt Winfried Summerer vom Träger, der Aiblinger Bürgerstiftung.
Und wenn die Ware doch mal knapp wird? „Dann müsste man mit einem Aufnahmestopp reagieren“, sagen Seipel und Bartl.
Unter den Ein-Euro-Käufern in Rosenheim ist Thomas Sebald (Name geändert). Seine braunen Augen wirken müde: „Ich habe drei Kinder zu Hause und kann aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten.“ Sebald bezieht Hartz IV. Im Internet ist er auf die Tafel aufmerksam geworden. Anfangs war es eine Überwindung, inzwischen kommt er gern.
Beim ersten Mal bringt man Rentenbescheid, Gehaltsnachweis oder Hartz-IV-Bescheinigung mit. Dann gibt es die Berechtigungskarte. Kurt Winter (Name geändert) kauft auch für eine kranke Bekannte ein. Der arbeitslose 56-Jährige ist zufrieden mit dem Angebot, ein unkomplizierter Kunde: „Ich esse alles, was ich bekomme, und verarbeite es.“
Die Rosenheimer Tafel bekommt nahezu alles abgepackt. Milchprodukte, Wurst, Käse, Fertigprodukte. Obst und Gemüse sind saisonabhängig. Viele Waren laufen bald ab oder sind knapp überm Mindesthaltbarkeitsdatum. Der Salat hat kleine braune Stellen, erkennbar nur bei genauem Hinsehen.
Die Einrichtung wirkt wie ein kleiner Tante-Emma-Laden. Es gibt ein Regal mit Brot, einen Stand mit Gemüse, einen Kühlraum mit Käse und Wurst. Ehrenamtliche greifen nach der Einkaufstasche der wartenden Kunden und füllen sie mit Waren. Das herzliche Lächeln von Helfer Alois Klotz (80) steckt an. „Ich war Maschinenbauingenieur, familiär lief alles gut. Dieses Glück möchte ich zurückgeben. Deshalb helfe ich hier“, sagt er.
Günther Börner (68) kam als Helfer zur Tafel, als er nach dem Tod seiner Frau eine Aufgabe suchte. Kennengelernt hat er dort seine zweite große Liebe: Renate. Er strahlt über das ganze Gesicht, wenn er von ihr spricht. Man kennt sich. Man schätzt sich. Und so bereichern die Tafeln das Leben der Kunden und der Ehrenamtlichen in vielen Facetten.