Rosenheim– Martina Siegel, blond, Anfang 30, lässt die Bombe platzen. „Die Kinder sind nicht von dir“, schreit sie, nimmt die Arme schützend vor die Brust und weicht ihrem Mann, Hans Donaubauer, rückwärts aus. Der schäumt vor Wut. „Ich bring dich um, du dreckige Schlampe“, brüllt er und schnappt sich ein Messer vom Küchentisch. Er geht auf seine Frau los und fügt ihr eine klaffende Wunde am Unterarm zu. „Du spinnst“, schreit sie. „Die Kinder siehst du nie wieder.“ Plötzlich springt die Tür auf, und zwei Polizisten stürmen die Wohnung. „Legen‘s das Messer weg, sonst muss ich schießen“, sagt Christoph Neumayer, die gezogene Waffe auf Donaubauer gerichtet. Der reagiert nicht. Thomas Müller, der zweite Beamte, versucht es mit Pfefferspray. Das bringt den Aggressor erst richtig in Rage. Er stürmt auf Neumayer zu, der drückt ab. Peng! Donaubauer geht zu Boden.
Szenen wie diese, die in diesem Fall vier Polizeibeamte nachgespielt haben, sind der Extremfall im Zuständigkeitsbereich des Polizeipräsidiums Oberbayern Süd in Rosenheim. Doch auch auf solche Situationen müssen die Beamten vorbereitet sein. Und zwar jeder der rund 2500. Die Außendienstler absolvieren 24 Stunden pro Jahr, die übrigen rund 640 Mitarbeiter nur acht Stunden. Ziel ist eine bürgerorientierte Konfliktlösung. Heißt: gewaltfrei. Je nach Gefahrenlage können jedoch auch Pfefferspray, Schlagstock oder die Schusswaffe zum Einsatz kommen. Es gilt, die richtige Wahl zu treffen. „Die Einsatzkräfte brauchen praktisches Know-how“, sagt Polizeipräsident Robert Kopp. „Das ist die Lebensversicherung.“
Die haben die Beamten in Gruppen zwischen 15 und 20 Mann bis dato in einem kleinen Mattenraum im Präsidium beziehungsweise vorübergehend in abbruchreifen Gebäuden abgeschlossen. Inzwischen findet das sogenannte Polizei-Einsatztraining in einem extra angemieteten ehemaligen Fabrikgebäude in Pang statt.
Das sieht von außen banal aus. Ein zweistöckiges, rechteckiges, hellbraun gestrichenes Gebäude mit hohen Fenstern. Nur ein Polizeibus auf dem Parkplatz lässt erahnen, was sich darin abspielt. Auch die Räumlichkeiten wirken eher unscheinbar: weiße Wände, unverkleidete Rohre an der Decke und kaum Einrichtungsgegenstände. Mit einer Ausnahme: Auf der Südseite des großen Übungsraums steht ein Tisch mit Stühlen, zwei Schränke und im Eck eine Couchgarnitur. Davor liegen Matten. Alles bewegliche Gegenstände. Denn das Ambiente muss – wie auch die Einsatzmittel – je nach Trainingsthema entsprechend angepasst werden: etwa für den Familienstreit, das Attentat oder den Messerangriff.
Gerade Letzterem kommt angesichts der jüngsten Statistiken eine immer größere Bedeutung zu. 477 Fälle von Gewalt gegen Polizeibeamte beinhalten die Aufzeichnungen des Präsidiums aus dem Jahr 2016, 271 davon zogen eine Anzeige nach sich. Ein Anstieg von 26,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Zwar nicht immer mit dem Messer, dennoch: „Der Messerangriff kommt häufiger vor und wird vielfach unterschätzt“, so Kopp. Und muss entsprechend trainiert werden – trotz neuer Ausrüstung wie der ballistischen Schutzausstattung.
Nach 15 Sekunden
Szenario beendet
Statt mit einem Messer bewaffnet sich Donaubauer mit einem Filzstift. Müller schlüpft in einen weißen Ganzkörperanzug, auf dem Stich- und Schnittwunden, die er durch eine Klinge erlitten hätte, in Form von Punkten und Strichen zu erkennen sind. „Ready?“, fragt Donaubauer. Müller nickt, der Messerstecher greift an. Müller versucht, sich mit Nahkampftechniken zu verteidigen, Donaubauer fuchtelt wild mit dem Filzstift. Nach etwa 15 Sekunden ist das Szenario beendet – der weiße Anzug ist nunmehr mit Punkten und Strichen übersät. „Die muss man sich in der Realität als klaffende Wunden vorstellen“, sagt Pressesprecher Andreas Guske dazu. Auch die sind im Einsatz zum Glück die Ausnahme.