Raubling – Heimweg. Michael Linnerer aus Raubling steht im Stau. Auf dem Abschnitt der Autobahn München-Salzburg vor dem Inntal-Dreieck – mal wieder. Er ärgert sich. Erst recht, als im Radio vermeldet wird, dass der Bundesrechnungshof den sechsspurigen Ausbau der A8 bis zur österreichischen Grenze für nicht notwendig befindet. Lediglich 26 Stautage im Jahr rechtfertigen nicht die hohen Kosten. „Da musste ich schon etwas schmunzeln“, sagt Linnerer. „Dieser Tag war also einer der 26. Und der davor auch.“
Als Linnerer die nervenaufreibende Odyssee überstanden hat und zu Hause sitzt, macht er seinem Ärger in einem Post auf seiner Facebook-Seite Luft. Die Resonanz findet er beachtlich: 72 „Gefällt mir“-Angaben, 20 Kommentare. Anrainer, Pendler, Berufskraftfahrer und sogar Polizisten und Feuerwehrleute bestätigen ihn in seiner Wahrnehmung. „Und es gab keine Gegenstimmen“, sagt Linnerer. Das Thema bewegt – nicht nur ihn selbst. Woher stammen diese ominösen und aus seiner Sicht realitätsfremden 26 Stautage pro Jahr? Und wie viele sind es wirklich? Da kommt Linnerer die Idee: ein Stautagebuch.
Am nächsten Morgen setzt der Raublinger einen weiteren Facebook-Post ab. Er fordert alle Autofahrer, die regelmäßig zwischen Rosenheim und Salzburg auf der A8 unterwegs sind, auf, ihm immer dann, wenn Stau ist, Fotos mit Datum und der ungefähren Position zuzuschicken oder in der eigens eingerichteten Facebook-Gruppe zu posten. „Ich will den Pendlern eine Stimme geben“, sagt Linnerer.
Er stört sich vor allem an der Art und Weise, wie die Zahl der Stau-Tage gegenwärtig erhoben wird: anhand der Anzahl der Autos. „Das ist aber nur die halbe Wahrheit“, betont der Raublinger. Da der Unterbau der Autobahn noch aus Zeiten des Nationalsozialismus‘ stamme und entsprechend in die Jahre gekommen sei, würden immer wieder Instandhaltungsarbeiten durchgeführt. Die Folge: nur eine Spur und damit Stau, der aber gar nicht als solcher in der Statistik auftauche. An der Zahl der Autos habe sich ja nichts geändert. Linnerer setzt auf eine zeitgemäßere Methode: Schwarmintelligenz à la Google Maps. Geht es nach ihm, soll darauf künftig auch die Politik setzen.
Als Referenzstrecke dient der 47,1 Kilometer lange Autobahn-Abschnitt zwischen Bernau und Piding – ohne die rund zwölf Kilometer bis zur Grenze. „Wir wollen den Grenzstau raushalten“, erklärt Linnerer. Gemeinsam mit seiner Community – inzwischen knapp 400 Mitglieder – erfasst der Raublinger nun jeden Tag die Höchstdauer, die Google-Maps für diese Strecke misst. Zum Hintergrund: Google wertet Live-Handydaten von Nutzern aus – auch von denjenigen, die auf dieser Strecke unterwegs sind. Anhand derer zeigt der Anbieter quasi in Echtzeit Verkehrsbehinderungen. „Diese Schwarmintelligenz machen wir uns zunutze“, sagt Linnerer. 27 Minuten bedeuten freier Verkehr, ab einer Fahrzeit von 35 Minuten herrscht in dieser Statistik zähfließender Verkehr, ab 39 Minuten leichter Stau, ab 43 Minuten Stau.
Seit dem 23. März, dem Start des Stautagebuchs, haben Linnerer und seine fleißigen Helfer inzwischen für insgesamt 42 Tage die jeweilige Tageshöchstdauer notiert. 18 davon, also etwas weniger als die Hälfte, zählten als Stau-Tage. Hochgerechnet aufs ganze Jahr, wären das rund 156 Stau-Tage. An sieben Tagen – rund 61 im Jahr – ergab die Zeitmessung von Google Maps leichten Stau, an vier Tagen – also rund 35 im Jahr – zähfließenden Verkehr. Freie Fahrt herrschte lediglich an 13 der 42 Tage. Gut 30 Prozent. Eine frappierende Diskrepanz zu den knapp 93 Prozent, also 339 Tagen, die die Regierung erhoben hat.
Vier Monate lang wollen Linnerer und seine Community Daten sammeln. Die Ergebnisse werden dann dem Bundesrechnungshof vorgelegt. Das Ziel: die Zahlen vergleichen, die des Bundesrechnungshofes widerlegen und damit in die Diskussion gehen. Und so in Sachen sechsspuriger Ausbau des Abschnitts etwas voranzutreiben. Denn die Zahlen zeigen aus seiner Sicht mehr als deutlich: Der Bedarf ist da.