Rosenheim – Einen kritischen Blick auf das deutsche Bildungssystem hat Josef Kraus bei einem Vortrag in Rosenheim geworfen. Der ehemalige Vorsitzende des Deutschen Lehrerverbands und einstige Gymnasium-Schulleiter ist dafür bekannt, Missstände schonungslos, aber auch mit einer großen Portion Humor anzusprechen.
Kraus ist Verfasser zahlreicher Publikationen und hat es mit dem Buch „Helikopter-Eltern“ auf die Bestsellerliste geschafft. Er war auf Einladung des Wirtschaftsbeirates Bayern nach Rosenheim gekommen. Der Titel seines Vortrages: „Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt.“ In der Aula des Ignaz-Günther-Gymnasiums saßen Interessierte aus den regionalen Schulen sowie Vertreter der heimischen Wirtschaft und Politik.
Der Vorsitzende des Wirtschaftsbeirates Bayern im Bezirk Rosenheim, Andreas März, begrüßte den Referenten. „Deutschland ist an der Weltspitze, weil wir viele gebildete Menschen haben – vom Handwerker bis zum Akademiker“, betonte er. Trotzdem habe man, zum Beispiel durch PISA oder andere Studien, stets den Eindruck, dass deutsche Schüler hinterherhinken.
Diktate abgeschafft – dafür kam Whatsapp
Kraus gab seinem Vorredner recht. In Deutschland herrsche Vollbeschäftigung und es gebe niedrige Arbeitslosenzahlen auch bei den Jugendlichen. In den Klassen falle kaum noch jemand durch, die Noten würden immer besser und die Abiturientenquote steige. „Niemand wird daran zweifeln, dass wir gut dastehen“, meinte er und schob mit einem Augenzwinkern hinterher: „Ich bin dieser Niemand.“ Denn er habe den Eindruck, dass man sich mit den vielen „schönen Bilanzen“ ordentlich in die Tasche lüge. Seine Diagnose fiel ernüchternd aus.
Kraus stellte dar, wie sich die Rechtschreibleistung in den vergangenen Jahrzehnten verschlechtert hat. Eine Studie zeige eine Fehler-Zunahme von 77 Prozent seit 1972. Die Gründe: Diktate seien abgeschafft worden und durch Whatsapp und Co. verständige man sich nur noch rudimentär. Die Rechtschreibreform habe zu einer Beliebigkeit geführt, da sich oft auch Experten nicht einig seien, wie man ein Wort schreibt. Einen Rückgang sah Kraus auch beim aktiven Grundwortschatz, dem zeitgeschichtlichen Wissen und den Mathe-Kompetenzen. Außerdem diagnostizierte er eine „völlige Schieflage zwischen beruflicher und akademischer Bildung“.
Doch was steckt dahinter? Kraus, der Gymnasiallehrer in Landshut und Schulleiter in Vilsbiburg war, sieht in der heutigen Bildungspolitik einen modernen Religionsersatz. Bildungspädagogik sei eine Art Sozialreligion mit diversen Dogmen, die als Ursache für die Probleme betrachtet werden könnten. Da sei zum Beispiel der Egalitarismus, die „Gleichmacherei“, die oftmals als gerechter betrachtet werde. „Doch nichts ist so ungerecht wie die Gleichbehandlung Ungleicher“, betonte Kraus.
Lernen kann nicht immer Spaß machen
Er beobachte den Versuch, das differenzierte Schulsystem kaputt zu machen – indem man zunächst die Gesamtschulen besser ausgestattet habe als andere Schulformen, später das Gymnasium aufblähte. Er plädierte daher für einen „Pluralismus der Eliten“ – etwa im handwerklichen, künstlerischen oder akademischen Bereich.
Dazu kommt laut Kraus ein „Hedonismus“, eine Leistungsfeindlichkeit an den Schulen. Alles müsse Spaß machen, nichts dürfe Stress sein. Auf diese Weise lernten junge Leute aber nicht, dass man für Erfolg etwas investieren müsse: „Individuelle Leistung ist Voraussetzung für unseren Sozialstaat.“ Er sprach sich für eine Renaissance des Leistungsprinzips aus. „Bildung geht nicht ohne Anstrengung“, meinte er.
Schließlich gingen auch Inhalte verloren. Bildung sei geprägt vom Nützlichkeitsdenken, vermittelt werde nur, was man im Leben braucht. Statt Inhalte stehen Kompetenzen auf dem Lehrplan. Kraus dagegen sprach sich dafür aus, Wissen mit dauerhaftem Bestand zu vermitteln: „Damit wir eine Basis haben, um urteilen zu können.“ Wer nichts wisse, der müsse alles glauben, zitierte er Marie von Ebner-Eschenbach. Kraus wies darauf hin, dass die häusliche Erziehungsverantwortung nicht an den Staat delegiert werden dürfe. Prägungen zu Gesundheit, Freizeit oder Umwelt müssten zu Hause stattfinden. In der Diskussion mit dem Publikum ging es um Lehrermangel, Ausblicke auf die Landtagswahl und die Situation in Bayern. Hier zeigte sich Kraus überzeugt: „G8 war Mist.“ Aber auch mit dem G9 sei er nicht ganz zufrieden. Insgesamt stehe man in Bayern noch besser da, passe sich den anderen Bundesländern aber an.