Rosenheim – Er hat die FDP 2017 mit über zehn Prozent aus der Bedeutungslosigkeit zurück in den Bundestag geführt und wäre beinahe Vizekanzler geworden: Christian Lindner (39), seit 2013 Bundesvorsitzender der FDP, ist das Gesicht der Liberalen. Und sogar sprachlich ein Trendsetter. So steht das Wort „lindnern“, also „lieber etwas gar nicht machen als etwas schlecht zu machen“, zur Wahl als Jugendwort des Jahres. Ob er sich darüber freut, welche Fehler er bei den Koalitionsverhandlungen begangen hat und wieso Deutschland mehr Pragmatismus an den Tag legen sollte, hat der 39-Jährige im Interview verraten.
Um die Vorkommnisse in Chemnitz ist ein großer Streit entbrannt: Während Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen trotz Videoaufnahmen keine Belege für Hetzjagden auf Ausländer sieht, fordern viele Politiker seine Entlassung. Wie bewerten Sie die Ereignisse in Chemnitz?
Ich kenne die Bilder auch nur aus den Medien. Ich bin ein Anhänger des Qualitätsjournalismus und bin der Überzeugung, dass wir es mindestens mit einer aufgeheizten Situation zu tun hatten. Merkwürdig wirkt auf mich, dass mit Herrn Maaßen ein Behördenchef überhaupt öffentlich solche Mutmaßungen anstellt. Es ist jetzt an ihm, die Zweifel, die es angesichts seiner Amtsführung gibt, auszuräumen. Unabhängig davon sind für mich generell Gewalt, rassistische Äußerungen, das Zeigen des Hitlergrußes, Hetze, aber auch das Werfen von Pflastersteinen auf Polizisten beim G20-Gipfel in Hamburg nicht akzeptabel. Da müssen wir uns unsere Zivilisiertheit bewahren. Das fängt damit an, dass man am Stammtisch, wenn einer dummes Zeug sagt, nicht mehr widerspricht. Da verändert sich bereits das politische Klima im Land. Und da kann ich nur sagen: Wehret den Anfängen!
Sie kritisieren linke Gewalt gegen Polizisten beim G20-Gipfel. Viele Wähler hat aber auch irritiert, dass die FDP gemeinsam mit linksextremen Organisationen gegen das im Frühjahr in Bayern verabschiedete Polizeiaufgabengesetz demonstriert hat.
Gegen dieses Gesetz wehren wir uns, weil wir es für unvereinbar mit dem Grundgesetz halten. Unser Ziel ist die Stärkung des Rechtsstaats. Ich hoffe, kann aber nicht garantieren, dass dies bei allen Gegnern dieses Gesetzes so ist. Mir geht es um die Sachposition: Wenn Zweifel an der Vereinbarkeit mit der Verfassung bestehen, dann betrachte ich es als die Pflicht von Bundestagsabgeordneten, eine Überprüfung der Norm durch das Verfassungsgericht in die Wege zu leiten. Zusammen sind 25 Prozent der Abgeordneten klagebefugt. So erklärt sich die ungewöhnliche Konstellation, dass wir in diesem konkreten Einzelfall mit grünen und linken Abgeordneten zusammen klagen. Das heißt aber nicht, dass es keine Unterschiede auf der fachlichen Ebene gibt. Die FDP würde ganz sicher ein anderes Gesetz vorlegen als Grüne oder Linke.
Unterschiedliche fachliche Ebenen, die es auch in puncto Flüchtlingspolitik gibt…
Kein Thema treibt die Deutschen offenbar so um wie Migration und Integration. Hier zeigt sich, wie an vielen anderen Orten, dass die Methode Merkel an ein Ende gekommen ist: Es gibt Probleme, die können nicht weiter vertagt oder mit Geld zugeschüttet werden. Der Staat muss in der Migrationsfrage mehr Handlungsfähigkeit zeigen.
Welche Lösungsvorschläge zur Einwanderungspolitik hat die FDP?
Erstens brauchen wir ein Einwanderungsgesetz, das ganz klar Asyl, Flucht und qualifizierte Einwanderung trennt. Bei der qualifizierten Einwanderung brauchen wir ein Konzept nach kanadischem Vorbild. Das heißt, wir suchen uns wie jedes traditionelle Einwanderungsland die Menschen aus, die wir als Arbeitnehmer hier haben möchten. Zweitens müssen wir beim Management der Migration besser werden – zum Beispiel bei der Identitätsfeststellung von Personen. Wir brauchen eine Vereinfachung der Verfahren, sodass Menschen, die vor einem Krieg flüchten, keinen Asylantrag mehr stellen müssen. Sie sollen einen befristeten Aufenthaltsstatus bekommen, der erlischt, sobald die alte Heimat wieder stabil ist. Drittens: Wir brauchen eine Kontrolle der europäischen Außengrenzen und einen Verteilmechanismus in Europa, der eine faire Lastenteilung garantiert. Eine europäische Lösung bekommen wir aber erst, wenn die anderen Staaten in Europa ein Interesse daran haben. Gegenwärtig tragen wir die Hauptlast – warum sollte dann irgendwer eine europäische Lösung anstreben? Wir müssen klar machen, dass Deutschland hier keinen Sonderweg mehr gehen will – zum Beispiel, indem wir vorübergehend die Dublin-Regeln wieder anwenden.
Zu Ihren Forderungen zählt auch eine konsequente Abschiebung. Wie soll das funktionieren, wenn sich viele Länder weigern, die Menschen wieder aufzunehmen?
Diese Weigerung kann man natürlich in einer fairen Partnerschaft nicht akzeptieren. Es sind oft genug Staaten, die Interesse an einer guten wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit uns haben. Deshalb begrüße ich es auch, dass die Kanzlerin in Afrika war und auf dieser Ebene Gespräche geführt hat. Unsere gesamte Entwicklungsarbeit sollte sich sehr viel stärker Afrika widmen, um dort langfristig Fluchtursachen zu bekämpfen und kurzfristig die Bereitschaft zu stärken, dass dort Menschen wieder aufgenommen werden. Da, wo wir wissen, wo sie herkommen, muss das Recht vollzogen werden.
„Bringt nichts, wenn wir die Zustimmung verlieren.“
Das Recht vollziehen – eine Aussage, die auch zur aktuellen Dieselproblematik passt. Wir haben viele Pendler in der Region, die von Fahrverboten betroffen sein könnten.
In ganz vielen Fragen müssen wir in Deutschland zurück zur praktischen Alltagsvernunft. Es macht keinen Sinn, jetzt Dieselfahrer zu enteignen und in ihrer Mobilität einzuschränken. Ich bin für ehrgeizige Ziele, aber auch für einen vernünftigen Weg dorthin, der die Menschen mitnimmt. Es bringt nichts, wenn wir am Ende für die Klimaziele die Zustimmung der Leute verlieren, wie das eben in den USA passiert ist. Wir müssen daher die Zielsetzung und marktwirtschaftliches Denken zusammenbringen.
Haben Sie dazu ein Konzept?
Erstens müssen wir alles tun, um im Bereich des öffentlichen Verkehrs wie beispielsweise bei Bussen moderne Antriebe zu verwirklichen. Zweitens brauchen wir eine intelligente Verkehrsführung in den Städten und – so weit möglich und ökonomisch sinnvoll – ein Update der Dieselfahrzeuge. Drittens brauchen wir einen längeren Anlauf, um die Grenzwerte zu erreichen. Ein natürlicher Austausch der Flotte würde dieses Problem binnen fünf Jahren lösen. Auch ich bin für saubere Luft und Klimaschutz. Allerdings bringt es nichts, wenn wir dieses Ziel mit der Brechstange zu erreichen versuchen, koste es, was es wolle.
Ist es denn eine deutsche Untugend, Vorschriften zu erlassen, mit denen wir dann gar nicht zurecht kommen?
Da stimme ich Ihnen zu: Wir lassen uns ins Deutschland sehr oft von edlen Motiven leiten. Wir vergessen dann aber sehr oft, den Blick auf die praktischen Folgen einer Politik zu lenken. Ich fände es besser, wenn wir uns an sozialen und ökologischen Ergebnissen orientieren würden. Beispiel Datenschutz: Wir müssen unsere Daten deutlich besser vor Riesen wie Facebook schützen, weil wir nicht gläserne Menschen werden wollen. Aber dann haben uns die Grünen eine Datenschutzgrundverordnung beschert, die jeden ehrenamtlichen Vereinsvorstand kriminalisiert und ins Visier der Abmahnanwälte bringt. Facebook entzieht sich, aber der Verein hat die Bürokratie. Da brauchen wir mehr Pragmatismus.
Ist denn die Politik in Deutschland Ihrer Meinung nach insgesamt zu populistisch geworden?
Eher zu kurzsichtig und zu wenig couragiert. Frankreich inspiriert mich. Da gibt es mit Emmanuel Macron einen Präsidenten, der bereit ist, grundlegend etwas zu verändern. Auch wenn jemand dagegen ist und protestiert. Und bei uns? Welches große Problem ist denn bei uns gelöst? Ich sehe vor allem Gschaftlhuberei, wie man in Bayern sagen würde.
Gschaftlhuberei, die Sie als Mitglied der Bundesregierung hätten eindämmen können. War die Entscheidung, die Jamaika-Koalition platzen zu lassen, vielleicht falsch?
Nein, die Entscheidung war richtig. Aber wir regieren auch gerne. Wir haben in Nordrhein-Westfalen gemeinsam mit der CDU eine Koalition gebildet, über die ich mich jeden Tag freue, welch gute Arbeit sie leistet.
An was ist dann die Koalition im Bund gescheitert?
An vielen inhaltlichen Punkten. Die aktuelle politische Lage bestätigt uns nur. Nehmen Sie den Konflikt um die Migrationsfrage: Hier finden bereits CDU und CSU keine gemeinsame Linie. Das Ganze wäre noch chaotischer geworden, wenn mit den Grünen eine Partei am Kabinettstisch gesessen hätte, die sich selbst als links bezeichnet. Die Grünen verweigern sich bis heute, die Magreb-Staaten zu sicheren Herkunftsländern zu machen. Tunesien ist ein Urlaubsland – aber laut Grüne kein sicheres Herkunftsland, in das wir Asylbewerber abschieben können.
Und das haben Sie erst nach wochenlangen Verhandlungen gemerkt?
Eines sehe ich inzwischen tatsächlich anders: Es hätte früher eine Entscheidung geben müssen. Im Grunde genommen war bereits nach zwei Wochen klar, dass die Unterschiede in der Sache eher größer als kleiner wurden. Klar ist für mich auch, dass Kanzlerin Merkel kein Erneuerungsprojekt mehr verkörpert. Denn sie möchte nicht in Widerspruch zu ihrer eigenen bisherigen Amtsführung geraten. Deshalb würde ich heute deutlicher sagen: Mit Frau Merkel – bei allem Respekt – ist ein Aufbruch nicht möglich, weil sie nicht will und keinen Ehrgeiz mehr besitzt.
„Die Grünen wollten nach links, die CDU wollte nichts.“
War die FDP letztlich zu schwach, um sich in den Verhandlungen durchzusetzen?
Die CDU hätte lieber Schwarz-Grün gemacht. Besonders die Merkel-CDU. Weil die FDP als individualistische Partei eher stört. Und die CSU tönt laut, hat aber wenig Einfluss in Berlin. Die Grünen wollten nach links, die CDU wollte nichts und wir wollten mehr Liberalität. In dieser Konstellation war für uns nichts zu gewinnen. Obwohl ich gerne jetzt bei Ihnen als Vizekanzler und Finanzminister säße – das dürfen Sie mir glauben.
Ist es wenigstens ein Trostpflaster, dass das Wort „lindnern“, das für „lieber etwas gar nicht machen als etwas schlecht zu machen“ steht, in der Wahl zum Jugendwort des Jahres steht?
Ich habe damit zumindest kein Problem. Wir haben uns natürlich für einen harten Weg entscheiden. Aber ich erläutere den Leuten lieber, dass wir uns nach der Wahl so an unser Wort gebunden gefühlt haben, das wir ihnen vor der Wahl gegeben haben, dass eine Regierung einfach nicht möglich war, als mich nach der Wahl zu winden, warum ich mich nicht mehr erinnere, was wir zugesagt haben. Das macht ja die CSU: Vor der Wahl sagt Markus Söder, der Soli müsse abgeschafft werden. Nach der Wahl standen wir in den Sondierungen allein da, weil sich niemand in der CSU daran erinnert hat. Und jetzt vor der Landtagswahl kommt Alexander Dobrindt und sagt, der Soli solle abgeschafft werden. Was glauben die eigentlich, wie dumm die Leute sind?
Die Abschaffung des Solidaritätszuschlags wäre für viele Bürger eine große finanzielle Entlastung und könnte beispielsweise dazu beitragen, dass mehr Geld für die private Vorsorge zur Verfügung stünde. Wie sehen ihre Ideen gegen Altersarmut aus?
Wer den heute 50-, 40- und 30-Jährigen sagt, die Rente wird wie bisher den Lebensstandard im Alter sichern, der lügt. Das wird nicht funktionieren. Es sind einfach nüchterne Zahlen. Ich glaube daran, dass wir eine Art Baukastenprinzip brauchen. Darin muss eine Stärkung der privaten Altersvorsorge enthalten sein, insbesondere in puncto Eigentumsbildung. Denn mietfrei Wohnen ist der beste Schutz vor Altersarmut. Dazu müssen wir die Grunderwerbssteuer senken, damit mehr Leute die Möglichkeit auf eine eigene Wohnung haben. Zudem müssen die, die können und wollen, unbürokratisch länger arbeiten dürfen. Statt Rente mit 63 sollten wir lieber die belohnen, die länger arbeiten, indem neben der Rente zum Beispiel die Bezüge, die man dann noch verdient, ohne Abgaben zu den Sozialversicherungen bleiben. Und drittens müssen wir die betriebliche Altersvorsorge weiter ausbauen.
Das klingt alles recht einfach. Doch wie soll ein Arbeitnehmer, der mit seinem Lohn kaum über die Runden kommt, überhaupt vorsorgen?
Indem diese Menschen eben finanziell entlastet werden. Zudem gibt es viele fleißige Menschen, die auch mit geringem Einkommen noch etwas für die Zukunft sparen. Das Problem: Sie bekommen später eine Rente, die so gering ist, dass sie die Grundsicherung erhalten. Und die private Vorsorge wird dann komplett auf die Grundsicherung angerechnet. Da macht es dann keinen Unterschied, ob jemand neben dem kleinen Einkommen jahrzehntelang vorgesorgt hat, oder nicht. Das ist für mich leistungsfeindlich. Bei einer kleinen Rente sollte die private Vorsorge zumindest teilweise unangetastet bleiben.
Bei der vergangenen Landtagswahl in Bayern ist die FDP abgestraft worden und aus dem Landtag geflogen, obwohl sie viele Ideen durchsetzen konnte. Verkaufen sich Bayerns Liberale zu schlecht?
Ich glaube, dass das nicht mit der Performance der FDP in Bayern zu tun hatte, sondern mit der Situation der FDP damals bundesweit. Weil wir die liberalen Werte damals nicht mehr verkörpert haben. Es gibt viele liberal denkende Menschen – aber wir haben diese Werte nicht politisch mit Leben gefüllt. Umgekehrt liegen wir bundesweit jetzt bei neun, zehn Prozent, obwohl wir von der CSU und den Grünen angegriffen werden. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass wir diese Liberalität wieder verkörpern und Freude daran haben.
Ihre Prognose für die Landtagswahl am 14. Oktober in Bayern?
Der Wahlkampf beginnt gerade erst. Wir sind bei den Umfragen mit sechs Prozent gestartet. Ich bin in Nordrhein-Westfalen mal als Spitzenkandidat mit zwei Prozent gestartet. Damals wurden es acht Prozent – das ist Faktor Vier. Jetzt überlegen Sie mal bei sechs Prozent, wo das hinführt… (lacht)
Interview: Willi Börsch, Heike Duczek,
Norbert Kotter, Thomas Neumaier,
Elke Wrede-Knopp, Mathias Weinzierl