Rosenheim – Kommissar Zufall war „schuld“, dass Kommissar Anton Gröber sich dem Weißen Ring bis heute verschrieb, Deutschlands größter Opferschutzorganisation. Sie wurde 1976 von Fernsehjournalist Eduard Zimmermann gegründet, der auch „Vater“ der XY-Sendungen ist. In einer dieser Sendungen hatte Gröber als Sachbearbeiter für Tötungsdelikte ungeklärte Mordfälle vorgestellt. Und bei dieser Gelegenheit erzählte Zimmermann ihm vom Weißen Ring.
Das ließ Gröber nicht mehr los, er wurde „Ehrenamtlicher“. Aus Sicht der Opfer war ein Tathergang „neu“, weil anders, zu erfahren und Erkenntnisse daraus zu ziehen. Das weckte bei Gröber großen Anteil und Aufmerksamkeit. Er beschreibt das so: „Die Arbeit des Weißen Rings ist keine, die die Tätigkeit der Kripo ins schiefe Licht rückt. Die Polizei kümmert sich um die Täterermittlung und darum, dass er überführt wird. Die Arbeit des Weißen Rings beleuchtet die Gegenseite. Sie kümmert sich intensiv um die Opfer, so, wie sie es auch verdient haben.“
Das wirft eine weitere Frage auf: Fühlte sich Gröber in einem emotionalen Konflikt, als er zeitgleich Kommissar und auf einmal auch ehrenamtlicher Mitarbeiter beim Weißen Ring war? Denn: Beruflich musste er Emotionen zurückstellen, als Ansprechpartner von Opfern aber Empathie bei sich selbst zulassen.
In dieser Zeitspanne habe er insbesondere die Kontakte zu Kollegen vom Weißen Ring hergestellt, sagt Gröber – ohne allerdings den Vorgang und das Opfer gänzlich aus dem Blick zu verlieren. Nach seiner Pensionierung im Jahr 2006 als Kriminaloberrat und Leiter der Kripo Rosenheim kniete er sich voll in die ehrenamtliche Aufgabe der Opferhilfe hinein. Schon die Arbeit damals bei der Kripo habe ein hohes Maß an emotionaler Stabilität gefordert, erinnert er sich, die Arbeit beim Weißen Ring erst recht.
Opfern zuzuhören, sie zu begleiten, zur Seite zu stehen, das setze menschliche Zuwendung voraus – „ein ganz wesentliches Standbein unserer Arbeit,“ betont der gebürtige Rosenheimer. Nur so könne man die Hilfe geben, dass die Opfer grausame und menschenverachtende Untaten verarbeiten und den Blick in die Zukunft richten wollen. Dazu gehört auch dies: „Wer noch nie vor Gericht stand und soll vor dem Staatsanwalt erscheinen, hat gerade als Opfer immense Ängste.“
Deshalb wird mit dem Opfer und mit einem Zeugenbetreuer der Gerichtssaal aufgesucht, auf dem Zeugenplatz (Opfer sind zugleich Zeugen) probehalber Platz genommen, Schwellenängste abgebaut. Es sind diese Kleinigkeiten, die einen Anfang für eine Verarbeitung der erlittenen Untat ermöglichen können.
Manche Delikte lassen Gröber nicht völlig los. „Da hat man Probleme, das zu verarbeiten“, sagt er. Der Priener Fall (2016) ist immer noch präsent: Eine Afghanin wurde von einem jüngeren Afghanen im Beisein ihrer zwei (von vier) Kindern erstochen.
Gröber betreute die Sekundär-Opfer, in diesem Fall den geschiedenen Ehemann und die Kinder, veranlasste, dass der Ex-Mann nach Prien umsiedeln konnte zu den Kindern, klopfte rechtliche Möglichkeiten ab (Nebenkläger), sorgte dafür, dass aus der Stiftung Opferhilfe (angesiedelt beim Innenministerium) eine kleine fünfstellige Summe zur Verfügung gestellt wurde und aus der Härtefallregelung der Bundesrepublik eine größere Einmal-Zahlung erfolgte. Diese tritt ein, wenn terroristisch oder islam-religiös motivierte Straftaten zugrunde liegen. Die Afghanin war zum christlichen Glauben übergetreten, es war das Motiv des Täters.
Unvorstellbar,
Opfer zu werden?
Zwischen 50 bis 70 Fälle pro Jahr betreut und begleitet allein Gröber. Darunter sind auch „leichtere“, wie etwa Betrug an der Haustür oder Handtaschenraub. Geduld erfordert ein aktueller Fall aus der Region. Eine Frau wird grün und blau geschlagen. Das geschieht jedes Mal, wenn der Ehemann meint, sie schaue ihn „blöd“ an. Sie erduldet das, weil sie glaubt, nichts an ihrer Situation ändern zu können.
Der Weiße Ring finanziert sich durch Spenden, Mitgliedsbeiträge (2,50 Euro im Monat), Bußgeld-Zuweisungen und vor allem Nachlässe. Gerade vermachte ein Ehepaar im Landkreis sein Haus – nach seinem Tod – dem Weißen Ring. Dieser hat zwar bundesweit 50000 Mitglieder. Aber: „Tendenz negativ“, weiß Gröber. Viele Mitglieder seien in den 70ern, jüngere kämen kaum nach. „Darüber klagen alle karitativen Einrichtungen“, so der 74-Jährige. Und unterstreicht: „Viele Menschen können sich nicht vorstellen, Opfer einer Straftat zu werden. Aber das kann genau jetzt jemandem geschehen.“ Kürzlich habe ihm ein Arzt erklärt: Circa fünf Prozent der Menschen in Stadt und Landkreis seien psychisch krank, den meisten gelänge es, unauffällig zu leben, aber einige würden komplett austicken.
Lange Zeit ein
Einzelkämpfer
Der Ex-Kommissar, dekoriert mit bundes- und bayerischen Verdienstorden, ist Initiator der Außenstelle Rosenheim, war lange Zeit dort Alleinkämpfer. Derweil hat die Außenstelle, zwischenzeitlich war sie in Rosenheim Stadt und Kreis aufgeteilt (bewährte sich nicht), sieben Mitarbeiter, die 150 Opferfälle im Jahr betreuen. Aber: „Es reicht nicht. Wir brauchen zehn bis zwölf Mitarbeiter“, ist Gröbers Geburtstagswunsch zum 35. Bestehen „seines“ Weißen Rings.
Eine Herzensangelegenheit ist die Prävention, vor allem gegen Kindesmissbrauch. Im Februar 2019 heißt ein von der Theaterpädagogin Ines Wette entwickeltes Stück „Pfoten weg“. Mit im Boot für die Veranstaltung im Kuko sind der Lions-Club Rosenheim und die OVB-Medienstiftung. Gröbers Schlusswort: „Ich bin überzeugt, dass all das gesellschaftliche Engagement des Weißen Rings notwendig ist, um unsere Gemeinschaft zusammenzuhalten.“